„75 Jahre – FN on Tour“

Bad Mergentheimer Original lauschte als Kind unterm Tisch

Sie ist ohne Frage ein Mergentheimer Original: Lydia Lauer ist ein echtes Kurstadt-Gewächs und präsentiert Interessierten und Besuchern ihre Heimat liebend gerne als Stadt-, Museums- oder Kirchenführerin.

Von 
Inge Braune
Lesedauer: 

Bad Mergentheim. Am Milchlingsbrunnen wird sie von Gästen, die heuer ihren Urlaub in Deutschland verbringen, angesprochen: Was für ein schönes Gewand sie da trage? Lydia Lauer erzählt die Geschichte: Es ist das Gewand der fiktiven Marktfrau Anna Katharina Lesch – auch „Leschin“ oder „Kätherle“ genannt, das sie als Stadt- und Museumsführerin schon von weitem sichtbar macht.

Immer informiert sein

Die wichtigsten News des Tages

FN Mittags Newsletter - Jetzt anmelden!

Mehr erfahren

Mittlerweile ist das aus historischen Beständen stammende Gewand, das Norbert Münzer 2011 im Museumsauftrag in seiner Ansbacher Werkstatt kundig ihrer Figur anpasste, ihr Eigentum. Sie trägt es mit ihren nun gut 80 Jahren immer noch genauso gern wie zu Beginn ihrer erst als Rentnerin begonnenen Kätherle-Karriere.

Auf den Leib geschneidert

Die Rolle ist ihr ebenso auf den Leib geschneidert wie ihr Kostüm, denn Lydia Lauer ist ein echtes Kurstadt-Urgewächs: Enten-, Mühlwehr-, Mauer-, Wett-, Ochsen-, Holzapfel- und Törkelgasse waren als Kind ihr Revier. Ob hier oder im jenseits von Gänsmarkt, Markt- und Ehrlerplatz gelegenen östlichen Altstadtviertel: Es gibt kein altes Haus innerhalb des Grabenrings und kein Gemach im Deutschordensschloss, zu dem sie nichts zu berichten hätte.

Mehr zum Thema

75 Jahre – FN on Tour

Reizvolle Kontraste machen Bad Mergentheim lebenswert

Veröffentlicht
Von
Sascha Bickel
Mehr erfahren
„75 Jahre – FN on Tour”

Assamstadt: Matthias Leuser ist erfolgreich gegen den Strom geschwommen

Veröffentlicht
Von
Klaus T. Mende
Mehr erfahren
„75 Jahre – FN on Tour”

In Schwabhausen gilt „Zurück zur Natur” als Lebensphilosophie

Veröffentlicht
Von
Werner Palmert
Mehr erfahren

Und auch über die Mergentheimer Bürgerschaft weiß „die Leschin“ so manches zu erzählen, das noch längst nicht den Weg zwischen Buchdeckel gefunden hat. In Bezug auf die gegenwärtigen Mitbürger und Mitbürgerinnen bleibt Lydia Lauer diskret, doch wenn’s um Originale aus der Alt-Mergentheimer Geschichte geht, nimmts „Kätherle“ kein Blatt vor den Mund.

Manche Geschichte hat Lydia Lauer schon als Kleinkind dem Bauernstammtisch beim „Scheck“ im alten Kulmbacher Braustüble abgelauscht. Da hockte sie zu Füßen des Großvaters unsichtbar unterm nur für die Bauern – seinerzeit führten die heutigen Landwirte diesen Namen noch voller Stolz – reservierten Tisch, bis die Alten oben ihre Anwesenheit vergaßen. Nach dem Krieg, wohl im Spätsommer 1946, wurde da die jüngst erst an Fritz Behr vergebene Lizenz für eine Mergentheimer Zeitungsausgabe beredet, und natürlich auch, was in Amtsblatt und den Fränkischen Nachrichten zu lesen war von von der Apfelernte bis zu Zwangsbeherbergungen.

Die kleine Lauscherin unterm Tisch interessierte sich eher für G’schichtle aus längst vergangenen Zeiten wie die vom Türmer mit dem schadhaften Gebiss oder den lebenslangen Streit zweier Mergentheimer Innungsmeister. Ob’s die Erzählungen der Alten über die Kinder unter den vielen übereinander gezogenen Röcken der Magdalene Schneck waren, die die Kleine naseweis einen Blick riskieren ließen? „Da war wirklich eins drunter“, erinnert sich Lydia Lauer.

Nicht nur unterm Tisch, auch hoch oben in alten Gemäuern sammelte sie Wissensbrocken über ihre Heimatstadt: „Wo die Buben hoch sind, bin ich auch hoch“, erzählt sie. Bei Ruinenklettereien öffneten sich heute kaum noch vorstellbare Einblicke. Wer kann schon noch behaupten, von oben ins Gewölbe der Marienkirche gelugt zu haben?

Mehr zum Thema

„75 Jahre – FN on Tour”

Vom hohen Norden ins „Hoschder” Paradies nach Ahorn

Veröffentlicht
Von
Elisabeth Englert
Mehr erfahren
75 Jahre – FN on Tour

Wenn Dieter Braun Gin brennt, liegt in Beckstein Wacholderduft in der Luft

Veröffentlicht
Von
Diana Seufert
Mehr erfahren
75 Jahre – FN on Tour

Roland Weichs Herz schlägt für Königheim

Veröffentlicht
Von
Susanne Marinelli
Mehr erfahren

Etliche Jahre hat Lydia Lauer in München gelebt, ehe sie wieder in die Heimat zurückkehrte. Die war trotz mancher Entwicklung nach wie vor so vertraut, dass sie sich bald einbrachte: Im Kneipp-Verein etwa, als Kirchenführerin, bei Wallfahrten. Und als sich in den 1990er Jahren die Möglichkeit bot, ins Team der Museums- und Stadtführer einzusteigen, zögerte sie nicht lange. Schließlich hatte sie sich als Verwaltungsangestellte im Rathaus, im Polizeikommissariat und der LVA schon reichlich lokales Geschichtswissen angeeignet.

Spannende Anekdoten

Jetzt aber richtig, schwor sie sich, und paukte Daten und Fakten. Zwar hatte sie schon als Schülerin über ihre Heimatstadt „alles gelesen, was greifbar war“, jetzt aber stapelten sich im Wohnzimmer Bücher, Kopien aus Archiven, Zeitungsartikel, handschriftliche Notizen geschichtsbewusster Bekannter – und nebenbei auch die eine oder andere Mergentheimer Anekdote, die Lydia Lauer zu Geschichten verarbeitet.

Wenn sie durch die Stadt führt, wird Mergentheims Vergangenheit lebendig: Mit dem Hochmeister Wolfgang von Schutzbar, genannt Milchling, und seinem Brunnen auf dem Marktplatz ist sie ebenso vertraut wie mit Eduard Mörike, mit den Madonnen auf Brunnen und an Hausgiebeln ebenso wie mit Wappen und Inschriften, die oft nicht einmal die Hausbewohner selbst je entdeckt haben.

Mehr zum Thema

75 Jahre - FN on Tour

„Die Hedwig” aus Wittighausen ist ein echtes Original

Veröffentlicht
Von
Peter D. Wagner
Mehr erfahren
75 Jahre - FN on Tour

Die Schlepperfreunde Grünsfeld lassen alte Traktoren in neuem Glanz erstrahlen

Veröffentlicht
Von
Matthias Ernst
Mehr erfahren
75 Jahre - FN on Tour

Eine Runde durch Großrinderfeld mit Vereinsfrau und Naturliebhaberin Birgit Hauck

Veröffentlicht
Von
Matthias Ernst
Mehr erfahren

Hier erinnert eine Tafel an das alte Mergentheimer Lyceum, dort oben nahm Beethoven Quartier, dies ehemalige Deutschordenshaus wurde über Jahre zum Wohnsitz des Bürgermeisters, und in jenem ganz versteckten Gärtchen ist noch zu sehen, wie man vor Generationen Stadtgärten gestaltete.

Selbst, was längst umgewidmet ist oder bereits vor Jahrzehnten abgerissen wurde, baut Lydia Lauer bei Stadtführungen erzählend neu auf. Sie zeigt auf ein vergittertes Fenster im Erdgeschoss des alten Rathauses: Im kleinen Stadtarrest harrten festgesetzte Randalierer und Halunken auf erste Beschlüsse über ihr Schicksal.

Im Johanniterhof – da kletterte Lydia Lauer als Kind noch die Wandleitern hoch, ohne Erlaubnis natürlich, aber auch ohne Blessuren – ersteht neu die Zehntscheune, aus dem ehemaligen Armenspital vermeint man leises Stöhnen zu hören, und im alten Pfarrgang muss eigentlich jeden Moment ein Kuttenträger auftauchen.

Mehr zum Thema

75 Jahre - FN on Tour

Gerold Künzig aus Niklashausen liegt Theater im Blut

Veröffentlicht
Von
Hans-Peter Wagner
Mehr erfahren
75 Jahre FN on Tour

Der „Crocodile Dundee“ von Tauberbischofsheim

Veröffentlicht
Von
Sabine Holroyd
Mehr erfahren
Machen

Fliegende Fische

Veröffentlicht
Von
Franz Lerchenmüller
Mehr erfahren

Dieses enge Gässchen mit seinem Kopfsteinpflaster wurde schon manchem Haute Couture-Schuh zum Verhängnis: Wer auf Stilettos durch Mergentheims Altstadt streicht, sollte den Boden nicht aus den Augen verlieren, auch wenn es hoch oben noch so viel zu entdecken gibt.

Wer gemeinsam mit Lydia Lauer die Fresken in der alten Seitenkapelle der Marienkirche besichtigt oder mit ihr erstmals das Madonnengemälde in Stuppach erlebt, wird weder die Engel im sonst verschlossenen Kapellchen noch das fein abwartende Lächeln der Grünewald-Madonna so schnell wieder vergessen.

Freie Autorin Berichte, Features, Interviews und Reportagen u.a. aus den Bereichen Politik, Kultur, Bildung, Soziales, Portrait. Im Mittelpunkt: der Mensch.

Copyright © 2025 Fränkische Nachrichten