Es ist ein kleiner Schritt für Angehörige der Generation Smartphone, ein großer für Menschen, die sich nur hin und wieder in künstlichen elektronischen Welten bewegen: Man richtet das Smartphone auf den Boden vor der Lübecker Marienkirche und plötzlich erscheint auf dem Display eine Art Türrahmen. Man tritt – im wirklichen Leben – zwei, drei Schritte nach vorn, nähert sich auf dem Display dem Portal und ist, schwups, im Inneren der Marienkirche – auf dem Bildschirm. Dort kann man sich zwischen den gotischen Pfeilern und der hohen Decke umsehen und stößt schließlich auch auf das Triptychon „Holz“, in dem Günter Grass sich mit dem Thema Waldsterben auseinandergesetzt hat.
Mit Grass in die Pilze gehen
Die Günter-Grass-App ist zunächst mal eine virtuelle Landkarte, ein Vorschlag für eine 46 Kilometer lange Radtour von Lübeck nach Mölln, die kostenlos aus dem Internet geladen wird.
Lübeck
Anreise
Am nachhaltigsten ist die Anreise mit dem Zug via Hamburg, www.bahn.de. Ab Stuttgart gibt es auch Direktflüge zum Regionalflughafen Lübeck-Blankensee, www.luebeck-air.de
Unterkunft
Fisher’s Loft bietet geschmackvolles Design in einem 250 Jahre alten Rokoko-Speicher. Doppelzimmer ab 150 Euro, https://fishersloft-hotel.de/ Günstiger wohnt man im Motel One, dazu in 1-a-Lage am Marktplatz. DZ/F ab ca. 130 Euro, www.motel-one.com/de/
Essen und Trinken
Nicht nur der Marzipaneinkauf gehört zu einem Lübeck-Besuch, sondern auch das Stück Nusstorte im dazugehörigen Café Niederegger, www.niederegger.de Backfisch, gebratene Scholle, Lachsburger, Matjesteller – im Fangfrisch ist (wie der Name schon sagt) alles fangfrisch. www.fangfrisch-luebeck.de
Aktivitäten
Die Dauerausstellung im Günter-Grass-Haus präsentiert Handschriften, Skulpturen, Aquarelle und Stiche des Künstlers. Auf der Website findet man auch die Links, mit denen man die App herunterladen kann, https://grass-haus.de/home Wer Mitbringsel sucht: Es muss nicht immer Thomas oder Heinrich Mann sein. Die Lübecker Antiquare haben auch ältere Ausgaben der Romane und Gedichte von Günter Grass im Angebot. Adressen: Arno Adler, Hüxstr. 55, Tel. 04 51 / 7 44 66; Franke, Fleischhauerstr. 32, Tel. 04 51 / 8 81 86 62; Tautenhagen, Beckergrube 83, Tel. 04 51 / 4 79 95 80.
Allgemeine Informationen
www.luebeck-tourismus.de www.stecknitzregion.de FRL
Ausprobieren, mal sehen, was geht! Es ist ein sonniger Morgen am Elbe-Lübeck-Kanal. Milane segeln durch die Luft, Gänse schnattern, die Gerste wiegt sich reif. Krummesse ist die erste Station. In der Brennerei wird Kümmel und Urkorn gebrannt und die App erinnert daran, dass auch Günter Grass einen guten Tropfen zu schätzen wusste. In einem „Aquadicht“ schwärmt er von den „schamlosen dänischen Sonnenuntergängen“, die nur mit einem Aquavit in der Hand zu ertragen seien.
Eine Skulptur namens Kanalhering, ein nachgebautes Salzboot, eine Kanalschleuse – an 24 Orten, die eine Rolle im Leben des Dichters gespielt haben, macht man nun nach und nach halt und erfährt übers Handy Hintergründe, hört Gedichte, sieht Bilder oder kann sogar selbst tätig werden.
Das hügelige Land hier, lernt man, erinnerte ihn an die Kaschubei, das Hinterland von Danzig, das er kriegsbedingt verlassen musste. Es wurde zu einer Art zweiten Heimat für ihn.
An der Kühsener Schleuse führt der Weg vom Kanal weg, die Hügel der Endmoräne hoch. Das Sträßchen zu Grassens Haus in Behlendorf zieht sich, aber was nimmt man nicht alles auf sich, um das Heim eines Nobelpreisträgers zu sehen. Das Haus, in dem Günter und Ute Grass fast 30 Jahre gelebt haben, liegt etwas außerhalb des Dorfes in einem Wäldchen. Ein Tor schließt den Vorplatz ab. Dahinter steht ein Volvo mit dem Kennzeichen HL-UG 700. Ute Grass ist am 24. April 2021 gestorben – ihr Auto noch zu sehen, befremdet ein wenig. Dann tritt der Meister höchstpersönlich ins Bild.
Im Video bittet er in seine Werkstatt neben dem Haupthaus, greift sich das Manuskript von „Grimms Wörter“, das wie zufällig herumliegt, und erläutert sein Schreiben, das immer per Hand und mit der alten Olivetti erfolge. Einen Computer nutze er nie, und natürlich hat er auch darüber ein Gedicht verfasst. Die neue App, behauptet der Direktor des Lübecker Günter-Grass-Hauses, hätte er sicher nicht selbst benutzt, wäre aber sehr beglückt darüber gewesen.
Günter Grass starb am 13. April 2015. Begraben sind er und seine Frau auf dem Friedhof von Behlendorf. Neben den Tidemanns, den Steins und Martens liegt das Grab et–was abseits unter einer Robinie und einer mächtigen Linde. In der App steigt eine Drohne hoch über die Kirche und das Dorf, fliegt am Kanal entlang bis nach Lübeck ins Grass-Haus. Und die unvergleichliche Katharina Thalbach, für die Grass seine Texte geradezu geschrieben zu haben scheint, steigt noch einmal zur Hochform auf. In Danziger Mundart rezitiert sie „Vonne Endlichkait“, Grassens Resümee und Titel seines letzten Buches. Wie ein Nussknacker zermalmt sie die Worte, wälzt sie im Mund, wendet und kostet sie. Wie ein neugieriger Troll sieht sie sich in Grassens Geschichten und Gedichten um und verleiht jedem die passende Klangfarbe.
Allein dafür lohnt das virtuelle Ding. Man könnte sich jetzt auf dem Display das Innere der tatsächlich verschlossenen Behlendorfer Kirche ansehen. Aber – der Akku geht zu Ende, und auf den Gedanken, eine Powerbank mitzubringen, aus der sich nachladen ließe, kommen Halbanfänger ins Sachen virtueller Realität natürlich nicht. Schade. Wir haben uns in den wenigen Stunden an unsere elektronische Begleiterin gewöhnt und jede neue Station mit zunehmender Neugier erwartet. Wir haben Grass als Bildhauer, Gastgeber, Dichter, Maler und Ostseeanrainer kennengelernt.
Und da wäre noch so einiges, was wir auf dieser Tour erfahren würden. Wir könnten mit Grass in die Pilze gehen, über seinen Katholizismus nachdenken und Kutteln mit ihm kochen. Auf dem Marktplatz von Mölln würde uns Daniel Kehlmann vor der Statue des Till Eulenspiegel erzählen, was sein Narr Tyll mit Grassens Narr Oskar Matzerath gemeinsam hat.
Und ganz am Ende würden wir, am Bahide-Arslan-Haus in Mölln, zurückgehen zum 23. November 1992. Neonazis hatten das Gebäude in Brand gesteckt, drei Menschen verbrannten in den Flammen und Günter Grass nahm abends an der Mahnwache teil. Zornig, erschüttert und warnend. Das alles und noch mehr, wenn – ja wenn wir eine Möglichkeit finden, unser Handy aufzuladen.
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/leben/machen_artikel,-machen-fliegende-fische-_arid,1968465.html