Wie gut lebt es sich auf dem Land und speziell im Neckar-Odenwald-Kreis? Wandern die Menschen ab oder kann die Region Einwohner gewinnen? Der Blick auf die Statistik stimmt pessimistisch: Anfang der 2000er Jahre hatte der Kreis noch rund 151 000 Einwohner, jetzt sind es noch 144 000. Da stellen sich einige Fragen. Landrat Dr. Achim Brötel gibt Antwort.
Herr Dr. Brötel, stirbt der Kreis aus?
Landrat Dr. Achim Brötel: Die Bevölkerungsdaten muss man eindeutig relativieren. Bei der Kreisreform hatten wir 132 000 Einwohner, Anfang der 1980er Jahre sogar nur noch 128 000. Dann kam der Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion und die deutsche Wiedervereinigung. Beides hat uns große Wanderungsgewinne gebracht und auch gefühlt eine extreme Wachstumsphase beschert. Da sind ganze Wohngebiete wie das „Nahholz“ in Buchen, die „Waldsteige West“ in Mosbach oder der „Vordere Wasen“ in Walldürn neu entstanden. Wenn wir jetzt leichte Rückgänge zu verzeichnen hatten, ist das also eher der Weg zurück zur Normalität und sicher kein Alarmsignal. Es ist keinesfalls so, dass die Leute auf gepackten Koffern sitzen. Immer noch leben in unserem Kreis heute deutlich mehr Menschen als vor 40 Jahren.
Trotzdem: „Schrumpfen“ wir?
Brötel: Nein, trotz negativem Geburtensaldo – es werden weniger Kinder geboren als Einwohner sterben – schrumpfen wir nicht. In den letzten Jahren hatten wir ein Wachstum von jeweils 0,1 Prozent. Das entspricht eher einer stabilen Seitwärtsbewegung. Und natürlich haben wir auch noch Luft nach oben. Genau daran arbeiten wir ja intensiv.
Hat dieses Wachstum auch etwas mit den Geflüchteten zu tun?
Brötel: Nur zu einem ganz geringen Teil. Insgesamt haben wir seit 2015 gerade einmal rund 2500 Personen bei uns aufgenommen. Manche sind inzwischen weitergezogen. Ein erheblicher Teil ist aber noch da und vor allem auch in Brot und Arbeit. Wir hatten eigentlich mit einer deutlichen Zunahme der Fallzahlen bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende gerechnet. Das ist aber nicht eingetreten. Übrigens: Wenn wir auf Geflüchtete angesprochen werden, dann erfolgt das mittlerweile ganz oft mit dem Wunsch, sie vor einer Abschiebung zu bewahren.
Wer kommt neu in den Kreis?
Brötel: Das sind einmal Menschen, die aus den Ballungsräumen hierherziehen, und zwar vor allem in Kommunen, die gut an die Autobahn oder an Bahnlinien angebunden sind und so ein bequemes Pendeln ermöglichen. Das gilt zum Beispiel vom Bauland in Richtung Würzburg oder Heilbronn/Stuttgart, aber auch vom Kleinen Odenwald per S-Bahn in Richtung Heidelberg und Mannheim. Das klassische Potenzial für Zuzüge bieten aber diejenigen, die in den Kreis zur Arbeit kommen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze ist bei uns deutlich stärker gewachsen als im Landesschnitt. Dadurch steigt auch der Einpendleranteil. Trotzdem ist die Zahl der Auspendler immer noch wesentlich größer.
Was können wir tun, um diese Menschen und speziell noch mehr junge Familien in den Kreis zu locken? Er bietet günstige Lebenshaltungskosten. Aber ist zum Beispiel die Kinderbetreuung gut genug?
Brötel: Für mich ist der Glasfaserausbau das zentrale Thema der Zukunft. Ob beruflich oder privat: schnelles Internet ist eine Grundvoraussetzung. In Sachen Kinderbetreuung ist zwar bereits vieles geschehen. Auch dort gibt es aber noch deutliche Potenziale. Dafür liegt die Zuständigkeit aber primär bei den Städten und Gemeinden. Wichtig für Familien ist auch das Thema Geburtshilfe. Ich bin deshalb froh, dass wir dieses Angebot in den Neckar-Odenwald-Kliniken – wenngleich inzwischen nur noch in Buchen – erhalten konnten.
Ein Blick in die Statistik zeigt, dass auch die Gruppe der 60- bis 85-Jährigen stark wächst. 2020 zählten 39 187 Personen dazu, 2035 sollen es 45 896 sein, fast 6000 mehr. Und die Zahl der 85-Jährigen wächst von 3884 auf 6534. Ist der Landkreis darauf vorbereitet?
Brötel: Das wird eine der größten Herausforderungen der Zukunft werden. Trotz bereits weit über-durchschnittlicher Pflegeplatzdichte werden die vorhandenen Plätze nicht ausreichen. Deshalb ist es gut, dass eine ganze Reihe von Pflegeheimbetreibern bereits reagiert haben.
Auch die Kurzzeitpflege wird dabei immer wichtiger. Wir sind der Caritas deshalb dankbar, dass sie mitten im Kreis, in Heidersbach, 19 solche Plätze geschaffen hat. Damit werden vor allem auch die pflegenden Angehörigen entlastet. Immer noch sind die Familien nämlich mit weitem Abstand der größte Pflegedienst, den wir haben.
Dieses System müssen wir erhalten und unterstützen, denn in den eigenen vier Wänden fühlen sich ältere Menschen nachweislich am wohlsten. Das ist auch in unserem Interesse, denn wenn mehr Menschen Unterstützung beantragen, geht das letztlich zulasten unseres Sozialsystems – und die Hilfe zur Pflege weist schon heute eine stark steigende Tendenz auf. Ähnlich positiv wirken die Tagespflegeeinrichtungen, die es inzwischen erfreulicherweise auch nahezu im gesamten Kreisgebiet gibt.
Was jetzt noch fehlt, wäre das Pendant dazu, also eine Nachtpflege. Da könnten auch die Krankenhäuser noch sehr viel mehr machen, wenn sie es denn machen dürften. Leider stehen wir uns in Deutschland aber viel zu oft durch unsinnige Vorgaben selbst im Weg.
Was meinen Sie konkret?
Brötel: Die Kliniken könnten vorhandene, aber aktuell nicht belegte Betten ohne Weiteres für eine solche Kurzzeitbetreuung zur Verfügung stellen. Genau das dürfen sie aber nicht. Man muss nicht alles verstehen zwischen Himmel und Erde.
Gerade von unserem Seniorenbericht sind viele gute Impulse ausgegangen. Auch von der jetzt anlaufenden Kommunalen Pflegekonferenz verspreche ich mir innovative Ideen. Allerdings hat uns da das Virus etwas ausgebremst. Im November soll es jetzt aber richtig losgehen. Wir sind auch da auf einem guten Weg.
Info: Die Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung basieren auf den Daten des Mikrozensus von 2011 und wurden durch die Fortschreibung sowie durch Meldezahlen der Gemeinden aktualisiert.
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