Dr. Josef Schuster im FN-Gespräch - Wurzeln des Antisemitismus reichen weit in die Geschichte zurück / Kulturtage und „Tachelespfad“ als Versöhnungsarbeit

Antisemitismus: Präsident des Zentralrats der Juden fordert Aufklärung statt Desinformation

Vier Städte feiern ambitioniert „Jüdische Kulturtage im Taubertal“ – gleichzeitig brodelt der Antisemitismus; nicht nur im Internet. Wie kann das sein? Die FN sprachen mit Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

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Michael Weber-Schwarz
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„Jüdisches Leben soll ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sein“, so Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. © Michael Weber-Schwarz

Main-Tauber-Kreis. Der Begriff „Shoa“ (hebräisch: „Unheil“) bezeichnet die millionenfache Ermordung jüdischer Mitbürger in der Zeit des Nationalsozialismus – und damit auch die Vernichtung eines über Jahrhunderte gewachsenen jüdischen Kulturerbes auf deutschem Boden. Dass es heute wieder Veranstaltungen wie die „Jüdische Kulturtage im Taubertal“ mit Beteiligung der Altkreisstädte Igersheim, Bad Mergentheim, Creglingen und Niederstetten gibt, ist vor diesem Hintergrund nicht nur wunderbar, sondern absolut bemerkenswert – beide Seiten betreffend. Jüdische Gemeinschaften, Künstler, Autoren, arbeiten aktiv mit den Tauber-Kommunen zusammen an einem Werk des Erinnerns und der Versöhnung. Und das soll allen Beteiligten vor allem Freude machen: „Jüdisches Leben soll ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sein“, so Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der Würzburger Arzt hat auch die Schirmherrschaft der Kulturtage übernommen hat.

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Gleichzeitig in Deutschland: Von offener Holocaust-Leugnung und Verbrennung von Israel-Fahnen durch antisemitische Demonstranten bis hin zu Chiffren und Andeutungen mit antisemitischem Charakter: Judenfeindliche Einstellungen sind weit verbreitet. Untersuchungen zeigten, so Josef Schuster, dass „tradierte“ antisemitische Vorurteile „bei rund 20 Prozent der Bevölkerung“ vorhanden sind.

„Gezielte Zweideutigkeiten“

Politiker wie der Thüringer Björn Höcke bilden dabei eine Art „laute“ Speerspitze, die aber eine Minderheit sei. Bei seinem Auftritt im Sommer in Lauda-Königshofen – auf gezielte Einladung der jetzigen AfD-Bundestagsabgeordneten Christina Baum – hatte Höcke in seiner Rede provokativ platziert, dass Gegendemonstranten „in die Produktion“ gesteckt werden sollten. „Ein Modell der AfD“, sagt Schuster, mit „gezielten Zweideutigkeiten“ und für jeden Anhänger verständlichen Codes nach vorne zu gehen. Worte wie Konzentrationslager werden zwar vermieden, sind aber gemeint; dennoch vermeidet man so mögliche strafrechtliche Konsequenzen.

Hinter einer solchen, an den NS-Duktus angelehnten, Sprache steckt einerseits eine subtile Glorifizierung des Nazistaats und der Wunsch nach einer alt-neuen, „strammen“ Regierungsform, andererseits eine Verharmlosung des Holocaust.

Woher kommt der manchmal versteckte, mitunter auch offene Antisemitismus? Schuster: „Solche Einstellungen sind historisch tradiert und entspringen auch der früheren Judenfeindlichkeit der christlichen Kirchen“; Stichwort: „Die Juden haben Jesus gekreuzigt.“ Dass Jesus selbst Jude war, das spielte für die Prediger damals kaum eine Rolle.

Blick in den Gottesdienstraum der Würzburger Synagoge: Im Hintergrund der Tora-Schrein (auch Heilige Lade), davor das Lesepult, oben ein Ewiges Licht, rechts die Menora, auch bekannt als Siebenarmiger Leuchter. © Michael Weber-Schwarz

Wenn man bedenke, dass das Christentum in seinen Anfangstagen zunächst eine jüdische Sekte war, könne man die damalige Ablehnung des Judentums aber als Phänomen der Abgrenzung und inneren Selbstorientierung begreifen, sagt Schuster. In der Sozialforschung spricht man von der Fremdgruppenabwertung, die nach innen das Selbstwertgefühl steigert.

Dialog erst spät aufgenommen

Vor und im Nationalsozialismus erreichte dieses Phänomen einen Höhepunkt: Die katholische Kirche etwa hielt das Narrativ der iudaicam perfidiam („jüdische Untreue“) im Zusammenhang mit dem „Gottesmord“ hoch. Oft „ohne es zu wollen“, erklärt Schuster, sei damit ein Nährboden für Pogrome geschaffen worden.

Dass „die Kirche glaubt, dass Christus, unser Friede, Juden und Heiden durch das Kreuz versöhnt und beide in sich vereinigt hat“, diese Sichtweise setzte sich erst weit nach dem Zweiten Weltkrieg durch und führte im Zusammenhang mit der katholischen Erklärung „nostra aetate“ (lateinisch für „in unserer Zeit“) von 1965 zu einer neuen und enormen Intensivierung und Vertiefung des interreligiösen Dialogs.

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„Dem lange praktizierten Antijudaismus wurde durch die Erklärung eine Absage erteilt“, sagte Schuster 2015 bei einem Vortrag im Bad Mergentheimer Deutschordensmuseum. Schuster vergaß dabei nicht, dass sich die „mörderische Raserei“ der Nazis später zweifelsohne auch gegen Christen beider Konfessionen gerichtet habe.

Der junge „Tachelespfad“ in Niederstetten zeigt die Grausamkeit des Naziregimes klar auf: Am Vorbach (und auch im benachbarten Creglingen) kam es in der Region zu frühen Gräueltaten durch NS-Banden – der evangelische Stadtpfarrer Hermann Umfrid wurde ebenso zum Opfer wie vorher seine jüdischen Mitmenschen. „Ich freue mich außerordentlich über solche Initiativen, gerade auch an Orten, an denen es heute keine jüdischen Gemeinden mehr gibt“, so Schuster. Wichtig sei dabei, nicht auf platte Betroffenheit abzustellen, sondern den heutigen Menschen abzuholen, zu informieren und Fragen zu stellen.

Unter einer Kuppel befindet sich auf dem Areal des Gemeindezentrums in Würzburg die jüdische Synagoge. © Michael Weber-Schwarz

Schuster hält zudem fest: „Juden sind ja nicht 1933 vom Himmel gefallen und 1945 wieder verschwunden. Jüdisches Leben gab es über Jahrhunderte hinweg – und daraus sind vielfältige Beiträge für Wissenschaft und Kultur entstanden.“

Heute wirkt Antisemitismus in Deutschland fast schon bizarr: Es leben in der Republik nur rund 100 000 religiös aktive Juden; weitere 100 000 gehören zum Umfeld. Eine absolute Minderheit also. Doch genau diese Minorität muss sich Anwürfe gefallen lassen, die von „plumpen Beleidigungen bis hin zu Weltverschwörungstheorien reichen“.

Von Extremen unterwandert

Auch die Coronaleugner- und Impfgegnerszene sehe er von Rechtsextremen unterwandert. Selbst an der Zuwanderung von Muslimen seien „die Juden schuld“, wird in entsprechenden Kreisen kolportiert, weiß Schuster. Ein Konglomerat an Merkwürdigkeiten also, das sich zum sozialen und vor allem immer „sagbareren“ Phänomen entwickelt hat. Und das „völlig losgelöst vom aktiven jüdischen Leben.“

Man kann es auch umgekehrt betrachten: Antisemitismus wird in Gesprächen am Stammtisch, in informellen Zirkeln und in Online-Kommentaren einfach in Unkenntnis und Ignoranz realer Verhältnisse „weitergetratscht“ und gewinnt beim Uninformierten so eine gewisse eigene „Realität“. Dass dabei die strafrechtlichen Grenzen (beim Persönlichkeitsrecht Beleidigungen, beim Strafrecht etwa Volksverhetzung/Holocaustleugnung) oft überschritten werden, spielt für viele Internet-Kommentatoren offenbar kaum eine Rolle. Selbst wenn Plattformbetreiber einschlägige Posts löschen müssen, wird das als gesteuerte „Zensur“ betrachtet – einzelne Netzwerke werden aktuell gar nicht erfasst und bieten weiter Plattformen für die Verschwörungsmixtur.

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Dr. Josef Schuster und die Jüdische Gemeinde Würzburg und Unterfranken bieten Aufklärung an: Dort wurde das Neue Jüdische Gemeinde- und Kulturzentrum „Shalom Europa“ in der Valentin-Becker-Straße errichtet.

Mit diesem Projekt verbindet sich eine beispielhafte Erneuerung jüdischen Lebens in der Region und darüber hinaus. Über die Gemeinde, ihre Struktur, ihre Aufgaben und Probleme, über ihre Geschichte und den Bau des Gemeindezentrums, bzw. der Synagoge finden sich (www.shalomeuropa.de) detaillierte Informationen.

Natürlich kann man das Gemeindezentrum auch direkt nach Anmeldung besuchen, die Synagoge besichtigen und mit Mitarbeitern ins Gespräch kommen. Samstags um 9 Uhr ist auch der jüdische Gottesdienst für jeden Interessierten offen.

Vor dem Gottesdienst erst einmal Händewaschen am kupfernen Becken. © Michbael Weber-Schwarz

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