Niederstetten. Schon bei den letzten „Jüdischen Kulturtagen im Taubertal“ im Jahr 2018 waren in Gesprächen mit dem jüdischen Ehepaar Roy und Adele Igersheim aus den USA die Weichen für den Beitritt Niederstettens zur Bildungspartnerschaft „Jüdische Kultur erleben, Holocaust verstehen“ gestellt worden. Jetzt wurde die Beitrittsurkunde unterzeichnet.
Zentraler Beitrag Niederstettens ist die Realisierung des Stationenpfades „Tacheles“, der nächste Woche eingeweiht wird. Roland Silzle, evangelischer Pfarrer und Mitglied im Arbeitskreis „Tachelespfad“, führte die Vertreter der Bildungspartner im Beisein der Stifter und Schirmherren Roy und Adele Igersheim sowie zahlreicher interessierter Gäste zunächst in die Kirche. Eindringlich schilderte er am Platz der früheren Kanzel, wie der evangelische Pfarrer Hermann Umfrid am 26. März 1933 in seiner Sonntagspredigt „Tacheles“ geredet hatte. Mit seinen Worten „das war nicht recht!“ verurteilte Umfrid die von Nationalsozialisten im Sitzungssaal des Rathauses am Tag zuvor verübten brutalen Misshandlungen jüdischer Mitbürger und zeigte damit Zivlcourage. Dem darauf folgenden Druck und der Drangsalierung, der fehlenden Unterstützung durch Kirche und Mitbürger sowie der drohenden Sippenhaft entzog Umfrid sich letztlich durch Freitod.
Roland Silzle führte die Gäste mit Fakten, aber auch mit Anekdoten aus dem Alltag von Juden und Christen vor der Nazidiktatur über den Stationenpfad, der mit Infotafeln, medialer Technik und Kunst vielfältigen Zugang zur Geschichte Niederstettens ermöglicht. Im Anschluss versammelten sich die Bildungspartner – Roy und Adele Igersheim, Gemeinde Igersheim mit örtlichen Partnern, Stiftung Jüdisches Museum Creglingen, Kaufmännische Schule Bad Mergentheim und Residenzschloss/Deutschordensmuseum Bad Mergentheim – und zahlreiche Bürger zur Unterzeichnung der Beitrittserklärung im Rathaus. Ulrich Roth, stellvertretender Bürgermeister der Stadt Niederstetten überreichte nach der Begrüßung dem Ehepaar Igersheim ein Willkommens- und Dankeschön.
Er sei der festen Überzeugung, so Roth, dass diese Bildungspartnerschaft vor dem Hintergrund der jüdischen Vergangenheit in Niederstetten angemessen und nach der Schaffung des Tacheles-Pfads der richtige Zeitpunkt sei. Die Ziele der Bildungspartnerschaft decken sich mit dem, was der Arbeitskreis auch als Botschaften mit dem Tacheles-Pfad erreichen wolle. Adressaten seien Schüler, aber genauso Erwachsene, die die Lehren aus der Geschichte ziehen müssten, um daraus heute eine friedliche und respektvolle Gesellschaft gestalten zu können. Der Tacheles-Pfad biete dazu Einblicke in die reiche jüdische Kultur und Geschichte in und mit Niederstetten, zeige, welch schreckliches Ende sie durch ein menschenverachtendes Regime gefunden habe und was mit Menschen wie Pfarrer Umfried geschah, die das Unrecht öffentlich angeprangert haben. Der Pfad rege an, sich selbst auf sein Verhalten zu Toleranz und Zivilcourage zu prüfen und ermuntere dazu, die aktuellen Entwicklungen in der Gesellschaft und in Deutschland zu prüfen und zu verstehen. Es gelte darüber hinaus auch den Mut aufzubringen, das Verhalten der Mitte der Gesellschaft sowie der jeweiligen politischen Machthaber, öffentlichen Meinungsführer und Eliten kritisch zu hinterfragen. Igersheims Bürgermeister Frank Menikheim betonte den langen Weg, den die Bildungspartnerschaft schon hinter sich habe. Schon drei Jahre, nachdem die Ahnenforschung Familie Igersheim nach Igersheim geführt hatte, wurde 2010 die Bildungspartnerschaft zwischen der Johann-Adam-Möhler Schule Igersheim und Familie Igersheim besiegelt. Er umriss deren Familiengeschichte, die durch Ausgrenzung, Flucht, Verlust von vielen Angehörigen im Holocaust, aber auch Rettung von Angehörigen im letzten Moment durch die belgische Untergrundbewegung geprägt war.
Vision entwickelt
Im Zuge der Ahnenforschung und der guten Kontakte zur Heimatgemeinde der Vorfahren im 17. Jahrhundert hätten Roy und Adele Igersheim eine Vision entwickelt. Sie wollten mit ihrer Familienstiftung und mit ihrer Familiengeschichte dazu beitragen, dass nie wieder passiert, was seinen Angehörigen widerfahren war. Zunächst in enger Kooperation mit der Igersheimer Hauptschule und der Manfred-Schaffert-Bürgerstiftung.
Jahrelang haben danach Seminarkurse der Kaufmännische Schule Bad Mergentheim diese Bildungspartnerschaft maßgeblich mitgestaltet. Dann kamen das Deutschordensmuseum Bad Mergentheim und die Stiftung Jüdisches Museum Creglingen als weitere Bildungspartner dazu. Immer stünden für Roy und Adele Igersheim junge Menschen im Mittelpunkt ihres Engagements. Deshalb führe jeder Besuch in Deutschland sie auch in die Schulen, die sich für Gespräche mit Juden interessieren. „Wer von uns Einheimischen kennt schon aus eigenem Erleben jüdische Traditionen und Bräuche?, so Menikheim.
Die gewährten Fördermittel des Bundesinnenministeriums sowie die von Dr. Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland zusammen mit Roy und Adele Igersheim übernommene Schirmherrschaft unterstrichen die Wertigkeit dieser Bildungspartnerschaft. Menikheim sagte, dass die Bildungspartner die vereinbarten Ziele sehr ernst nähmen. Die Stadt Niederstetten habe im Vorfeld deutlich gemacht, dass sie es „ebenso ernst meint wie wir!“. Dieses Ernstmeinen sei Voraussetzung fürs Mitmachen in dieser Bildungspartnerschaft. Menikheim verwies darauf, dass es sich in weniger als zwei Monaten – am 28. November 1941 – zum 80. Mal jähre, dass die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger unter Bewachung und ohne Einschreiten der Bevölkerung ihre Koffer zu Fuß zum Bahnhof schleppen mussten.
„Heute, 80 Jahre später, kommen zwei Juden zu uns. Sie bringen Fördermittel, Freundschaft, ihre Zeit und Kraft mit. Sie setzen sich dem Schmerz der eigenen Erinnerungen aus, wenn sie mit uns gemeinsam für eine bessere Zukunft eintreten, für Gewaltlosigkeit, Respekt und Achtung der Menschenwürde und für eine umfassende Persönlichkeitsbildung, damit die Menschen rechtzeitig erkennen, wenn gefährliche politische und gesellschaftliche Entwicklungen sich anbahnen“, so Bürgermeister Menikheim.
Roy Igersheim wandte sich auf Deutsch an die Anwesenden und gab seiner tiefen Freude Ausdruck, dass er in dieser Bildungspartnerschaft die Möglichkeit habe, seine Eltern zu ehren und mit Hilfe der von seinem Vater gegründeten Familienstiftung Bildung zu ermöglichen und für eine bessere Welt einzutreten.
Adele Igersheim überbrachte die Grüße von Dr. Josef Schuster. Er habe sehr gerne wieder die Schirmherrschaft über die Kulturtage übernommen.
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