Tauber-Odenwald. In der großen Sporthalle im Bad Mergentheimer Weberdorf herrscht konzentrierte Stille. Schwarzgurt Andreas Schleicher lässt seine Schüler zum Angrüßen in die Zen-Sitzhaltung abknien. Es wird die japanische Anweisung „Mokuso“ gerufen – das hört sich ausgesprochen wie „Moksu“ an und bedeutet „ruhiges Denken“.
Dieses für einige Atemzüge In-der-Stille-Sitzen ist aber weniger die Konzentration auf das anschließende Training, als vielmehr ein gemeinsames Leerwerden-Lassen des Geistes. Eine Meditation, die auch ein Abstandnehmen vom Alltag bedeutet.
Der weiße „Gi“, den alle tragen, war in Japan ursprünglich die Wäsche unter der Kimono-Robe. Traditionsvergessene nennen das Trainingsgewand in Deutschland auch Kampfanzug. Farbige Gürtel zeigen den Trainings- und Prüfungsgrad der Ju Jutsu-Sportler an – wie in vielen anderen verwandten Budo-Sportarten auch.
Mit dem ganzen Körper kämpfen, sich selbst verteidigen können – für viele Menschen macht das die Faszination der asiatischen Sportarten aus. Andere wiederum mag die Situation vielleicht eher abschrecken. Kämpfen, das hat zwangsläufig auch mit Niederlagen zu tun, mit Schmerz, mit (vorgestellten) Verletzungen.
Verletzungen sind sehr selten
Johannes „Hennes“ Meinikheim ist seit Jahrzehnten Abteilungsleiter der Mergentheimer Ju Jutsu-Gruppen. Rund 150 Aktive sind es hier, an die 90 Kinder und Jugendliche, 50 Erwachsene. In seinen vielen Trainerjahren „kann ich schwerere Verletzungen an einer Hand abzählen“, hält Meinikheim fest. Das erstaunt den Ju Justu-Trainer auch nicht – er hat den sechsten Meister-Grad („Dan“) inne – , denn „wir gehen ganz anders miteinander um“. Anders als die Aktiven in vielen Sportarten jedenfalls. Schon vom ersten Trainingsabend an geht es im Ju Jutsu darum, auch potenziell gefährliche „Techniken verletzungsfrei zu lernen“, so Meinikheim. Ausrüstungen wie Tiefschutz und bei Kämpfen auch ein Zahnschutz sind obligatorisch. Außerdem lernt jeder Kämpfer, wie man effektiv Distanz hält, Angriffe blocken kann, mögliche Trefferflächen durch schnelle und ökonomische Bewegungsformen aus dem Bereich gegnerischer Tritte und Schläge herausbekommt.
Szenenwechsel: Wer sich im medizinisch-pflegerischen Bereich bei Angeboten für Senioren umsieht, wird schnell auf das Thema „Sturzprophylaxe“ stoßen. Bewegungstraining, Kraft- und Ausdauertraining, Erhöhung der Standsicherheit und „richtig fallen“ sind wichtige Faktoren.
Mit Trainingskleidung aus asiatischer Tradition: Ju Jutsu ab 1967 als offene Selbstverteidigung in Deutschland entwickelt
Budo ist der Oberbegriff für alle japanischen Kampfkünste, also Ju Jitsu (Ju Jutsu), Judo, Karate, Aikido oder Sumo, die außer reinen Kampftechniken noch eine „innere“ Do-Lehre oder -Philosophie enthalten. Das „Do“ bezeichnet dabei Aspekte von Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle.
In den Sportgruppen in Bad Mergentheim nennt man es „Ju Jitsu“ in Weikersheim „Ju Jutsu“ – zwei mögliche Laut-Übersetzungen der gleichen japanischen Grundworte. Gemeint ist damit immer ein modernes, offenes Selbstverteidigungssystem sowie eine Kampfkunst und ein Wettkampfsport mit unterschiedlichen Disziplinen.
Tatsächlich wurde das moderne Ju Jutsu als Mischform verschiedener asiatischer Stile und Box-Techniken in Deutschland entwickelt. Das Bundesinnenministerium forderte ab 1967 ein für Polizei, Zoll, Justiz und Streitkräfte effektives, stiloffenes und stilübergreifendes System der waffenlosen Selbstverteidigung. Heute gehört Ju Jutsu zu den bekannten Breitensportarten innerhalb der Budo-Disziplinen.
Die Falltechniken (Fallschule) gleichen denen anderer „Kampfsportarten“. Die eingeübte Falltechnik soll beim Stolpern, einem Schubs-Angriff usw. reflexartig ausgeführt werden, um eine zeitliche Verzögerung – durch aktives Nachdenken – zu minimieren. Ziel: Beim Fallen möglichst wenig bis keinen Schaden nehmen.
Werfen und Fallen: Entsprechende Techniken gibt es auch im deutschsprachigen Raum seit Jahrhunderten. Albrecht Dürer (1471 – 1528) hat für ein Turnierbuch Kaiser Maximilians I. Stiche angefertigt, in denen jeder Budo-Sportler seine „asiatischen“ Techniken sofort wiedererkennen kann. Klar ist: Kämpfer auf der ganzen Welt gehen mit den gleichen anatomischen Voraussetzunge in die Auseinandersetzung.
Ju Jutsu wird im Main-Tauber-Kreis in Bad Mergentheim und Weikersheim trainiert; im badischen Bereich in Mosbach. Judoabteilungen gibt es u. a. in Niederstetten und Tauberbischofsheim. Weitere Budo-Sportarten werden an vielen Orten im Bereich Tauber-Odenwald trainiert.
Neben dem Erlernen technischer Fertigkeiten gehören altersgerechte Aufwärmübungen und je nach Ausrichtung auch Atemübungen zum Programm. Konzentrationsfähigkeit, Koordination und das Gleichgewicht-Halten werden geschult. Auch die Erhaltung, bzw. Steigerung der Beweglichkeit, von Ausdauer und Kraft, gehört zu den Trainingseffekten. mrz
„Bei jedem Sturz ist entscheidend, den Körperschwerpunkt schnell in Richtung Boden zu bringen: Also nicht mit gestreckten Beinen zu fallen, sondern in die Knie zu gehen und den Kopf zu schützen. Bei Rück- und Seitwärtsstürzen muss das Kinn an der Brust bleiben, damit der Kopf nicht aufschlägt“, heißt es in einem Beitrag des Deutschlandfunks für Senioren.
Training läuft altersgerecht Theorie ist gut, Praxis ist besser: Wer Ju Jutsu betreibt, lernt solche Fall- und Sturztechniken schon bei der Vorbereitung auf den ersten gelben Gürtel. Mal reinschauen? Auf dem Medienkanal Youtube gibt es unter dem Stichwort „JuJu zeigt Sturz seitwärts“ die Basisübung. Die wird mit einem Maskottchen für Kinder gezeigt, doch Ju Justu ist natürlich auch für Erwachsene hervorragend geeignet.
Erwachsenentraining läuft angepasst und „altersgerecht“, erklärt Hennes Meinikheim. Als prinzipiell offenes System gibt es im Ju Jutsu nicht „die“ Techniken, die man irgendwann einfach können muss. Beispiel: Einen Bein-Kick können junge Wettkampf-Athleten bis zum Kopf eines Gegners ausführen. Wer altersmäßig – oder bei einem körperlichen Handycap – solche Tritttechniken nicht schafft, kann sie auch „low“, also eine oder zwei Etagen tiefer üben und bei Prüfungen demonstrieren. Falls erforderlich können auch alternative Techniken gezeigt werden.
Gut fürs Körpergefühl
„Und solche effektiven Alternativen findet man immer“, weiß Meinikheim; er ist selbst ein erfahrener Prüfer. Der Grünsfelder ist zudem Vizepräsident für Breitensport Ju Jutsu-Landesverbands, davor war er bereits ab 2007 Seniorenbeauftragter des JJVW.
Was kann man im Ju Jutsu jenseits von unmittelbaren Selbstverteidigungstechniken bis ins Alter hinein lernen? „Körpergefühl, Koordination, Aufmerksamkeit, Orientierungsfähigkeit“, sagt Meinikheim. Doch es gibt auch „Soft Skills“, die es so nur in den Budo-Sportarten gibt: Freundlichkeit, Höflichkeit, Zurückhaltung, Wertschätzung, spezielle Formen der Disziplin und der Beziehung, ein bescheidenes Auftreten.
Wer unter dem Begriff „Fitness“ neben dem körperlichen auch das geistige Wohlbefinden verorten kann, der findet diese alten Tugenden als Lebenseinstellung in einem „Dojo“ lebendig wieder. Auch wenn es in Bad Mergentheim eine Multifunktionshalle ist – der Trainingsraum für die japan-basierten Kampfkünste wie z. B. Karate, Judo, Kendo, Ju Jutsu oder Aikido bezeichnet im übertragenen Sinn auch für die Gemeinschaft der Übenden.
Freude an der Bewegung
„Spaß am Raufen, am Techniken lernen, an Selbstverteidigung oder Wettkampfsport – jeder hat im Ju Jutsu die Möglichkeit, sich in verschiedene Richtungen zu entwickeln, sagt Meinikheim. „Aber bei allem sollte die Freude an Bewegung und das Erleben von Gemeinschaft im Vordergrund stehen.“
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