Bobstadt/ Stuttgart-Stammheim. Seine „staatsfeindliche Radikalisierung“ hat zu vielfachen Mordversuchen an Polizisten geführt: Ingo K., der Schütze von Bobstadt, wurde jetzt vom Strafsenat in Stuttgart-Stammheim zu 14 Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.
Die Urteilsverkündung samt mündlicher Begründung durch den Vorsitzenden Richter Stefan Maier dauerte nicht einmal zweieinhalb Stunden: 14 Jahre und sechs Monate Haft für vielfache Mordversuche Ende April 2022 im Boxberger Ortsteil Bobstadt. Das Oberlandesgericht geht von einer Alleintäterschaft des 55-jährigen ehemaligen Kampfsporttrainers aus. Eine Sicherungsverwahrung nach der Haft behält sich die Justiz vor.
Ingo K., im weißen Hemd und schwarzer Anzugjacke, verfolgt das Urteil mit interessierter, aber weitgehend emotionsloser Mine. Nur bei der Verkündung des Strafmaßes sucht er Blickkontakt mit dem Publikum und schüttelt mehrfach langsam den Kopf.
Mehr als 40 Schüsse
Es sind „vier tateinheitliche Fälle“ des Verbrechens, lässt der Vorsitzende Richter wissen. Im Wesentlichen geht es um mehr als 40 Schüsse aus einem Schnellfeuergewehr und um den Erwerb und Besitz von Kriegswaffen – die sich Ingo K. wohl schon ab 2017 nach und nach auf dem Schwarzmarkt besorgt hatte. Damals wohnte er noch in Rüsselhausen bei Niederstetten.
Immerhin hatte er dort Waffen und riesige Mengen Munition noch vergleichsweise sicher verwart. Nach Kündigung seiner Wohnung und dem Umzug nach Bobstadt lagerte er Gewehre, Pistolen, Munition und Zubehör wie Ersatzmagazine und Laserzielgeräte unverschlossen in einem Raum neben seinem Schlafzimmer. Sämtliche Waffen waren geladen und voll gebrauchsfähig.
Glaube an geheime Weltherrschaft
Genau den Zeitraum zwischen 2016 und dem Umzug Ende 2021 beleuchtete das Gericht besonders. Zunächst sei K. nie gewalttätig gegen Beamte geworden, obwohl er sich seit der ersten „Flüchtlingskrise“ und den Corona-Einschränkungen durchaus mit Verschwörungsmythen radikalisiert habe. Politiker als außerirdische „Reptiloiden“, eine geheime Weltherrschaft, Gedankenkontrolle der Bevölkerung über nicht existente „Chemtrails“, Juden, die „Kinderblut trinken“ – das gehörte zum Gesprächsrepertoire Ingo K.s mit Bekannten. Die eigentliche Radikalisierung sei aber ein „schleichender Prozess“ gewesen.
Mit dem Kontakt zur Bobstadter Familie A., die laut Gericht klar „der Reichsbürgerbewegung zuzuordnen“ ist, sei der arbeits- und vermögenslose K. aggressiver gegen Vertreter des Staats geworden: Im Februar 2022 habe er Mitarbeiter des Hauptzollamts bedroht, zwei Wochen vor der Tat einen Sachbearbeiter des Finanzamts grob beleidigt. Familienvater Heiko A. habe vorher beim Finanzamt mit „gerechter Strafe“ gedroht, wenn man noch einmal Post auf das weitläufige Hofgelände schicke. Trotz diesem Vorgeplänkel: Die Polizei konnte nicht „mit der Anwendung massivster Gewalt“ am Tattag rechnen.
Bekanntlich sollte eine zunächst legal besessene Pistole von Ingo K. eingezogen werden. Weil die Behörden mit Widerstand rechneten, wurde ein Spezialeinsatzkommando (SEK) mit der Hausdurchsuchung beauftragt. Um 6.08 Uhr zündete das SEK nach der Anfahrt mit Blaulicht, Martinshorn und Lautsprecherdurchsagen eine Knallgranate – wegen der scharfen Hunde auf dem Gelände. Auch beim Versuch, die Terrassentüre mit einer Flex zu öffnen gab es laute Durchsagen. Aus dem Hausinneren: keine Reaktion. Die Verteidigung hatte im Plädoyer versucht, einen Überfall der Behörden auf einen quasi friedlichen Bürger zu konstruieren. K. habe in Notwehr gehandelt.
Heimtückischer Feuerüberfall
Das Gericht kommt aber zum umgekehrten Schluss, dass Ingo K. die Beamten genau „erkannt und gehört“ hat, das SEK aber heimtückisch „in Sicherheit gewiegt“ habe. Unvermutet habe K. dann durch die halb geschlossenen Rollläden das Feuer auf die Polizisten eröffnet. Einer wurde dabei leicht, ein zweiter schwer an beiden Beinen verletzt. Es gab mehrere Schusssequenzen. Besonders verwerflich laut Gericht: Als Beamten ihren verletzten Kollegen in einem gepanzerten Fahrzeug in Sicherheit bringen wollten, habe Ingo K. ihnen beim Rückzug nachgeschossen. Es sei ein Wunder, so der Richter, dass es dabei keine „Leichen“ gegeben habe. Die Attacke sei „sittlich auf tiefster Stufe“ anzusiedeln. Derart „niedrige Beweggründe“, genährt von einer abstrusen Ideologie, sind ein weiteres Mordmerkmal.
Als Ingo K. (und die Polizisten) den Schusswechsel eingestellt hatten, verließ Ingo K. das Haus zunächst nicht. Erst nach Telefonaten, bei denen er einen „Verhandlungsführer“ gefordert habe, gab K. kurz nach 8 Uhr auf und legte eine Bundeswehr-Kriegswaffe vom Typ „G3“ und Munition draußen ab. Um 8.12 Uhr die Festnahme. Dabei sei K. „gelassen und ruhig“ gewesen. Die Beamten habe er aber wissen lassen, dass sie zwar „gute Jungs“ seien, sie aber „für die falsche Seite kämpfen“.
Das Thema „Reichsbürger“: Ein kaum genau zu definierender Sammelbegriff. Doch eines eint derartige Verschwörer. Sie lehnen die Rechtsordnung der Bundesrepublik fundamental ab, wähnen sich als Bürger von „Fantasiestaaten“, so Richter Stefan Maier. Seien sie erwerbslos und klamm, dann nähmen sie aber „Geldleistungen von eben diesem Staat.“ Weil angebliche „persönliche Rechte“ für sie im Vordergrund stünden, seien Konflikte mit Behörden fast „zwangsläufig“.
Einfache Schuldzuschreibungen
Reichsbürger und ihre Artverwandten hegten oft extremistische Vorstellungen, gingen bei komplexen Sachverhalten mit einfachen Schuldzuschreibungen an den Meinungsmarkt – heutzutage vor allem über das Internet. Es gehe aber nicht um bestimmte Bezeichnungen, sondern – wie im Fall Ingo K. – um „die innere Haltung zum Tatzeitpunkt“. Das Gericht erkenne eine „außerordentlich hohe kriminelle Energie, die sich in vielen Schüssen in einem Wohngebiet auf geringe Entfernung entladen habe. Positiv sei zu werten, dass trotz Mordabsicht der „Erfolg“ der Tat ausgeblieben sei. Glücklicherweise für die Polizisten, denn deren Arbeit sei „von unschätzbar hohem Wert“ für die Gesellschaft. Statt Herabwürdigungen hätten sie „Anerkennung und Respekt verdient.“ Nur wer sich „restlos in ein abstruses und absurdes Weltbild hineingesponnen“ habe, sei zu Taten, wie die von Ingo K., überhaupt fähig.
Der Verurteilte habe sich nur in geringen Teilen geständig gezeigt. Reue und Verhaltensänderung könne man trotz Entschuldigung nicht erkennen. Deshalb wird eine „vorbehaltliche Sicherungsverwahrung“ verhängt – es kommt am Haftende auf die Entwicklung K.s an.
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