Prozess in Stuttgart-Stammheim

Stammheim: Familie A. hält Polizeivideos für Fälschungen

Drei weitgehend gleichlautende Aussagen über Verlauf der Schießerei im April 2022 in Bobstadt: Vermieterfamilie A. ist überzeugt, dass der Polizeieinsatz ein „Überfall“ war. Sie hat durch Hausbrand Hab und Gut verloren.

Von 
Michael Weber-Schwarz
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Beim Zugriff der Polizeikräfte brach in dem Haus in der Bobstadter Bergstraße ein Feuer aus. In dem Gebäude lebte der Angeklagte und im Dachgeschoss die Vermieterfamilie A. – Freunde von Ingo K.. © Michael Weber-Schwarz

Bobstadt/Stammheim. Wegen mehrfachen Mordversuchs angeklagt ist der ehemalige Kampfsporttrainer Ingo K. – er soll mit einer automatischen Kriegswaffe Spezialeinsatzkräfte (SEK) der Polizei in Tötungsabsicht beschossen haben, als diese 2022 versuchten, seine Pistole einzuziehen.

Was wusste die Vermieterfamilie A., die im Dachgeschoss des Wohnhauses im Boxberger Ortsteil Bobstadt wohnte? Vor dem Oberlandesgericht (OLG) in Stuttgart-Stammheim wurde am Mittwoch klar: Man unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu dem Angeklagten. Gemeinsam wollte man mehr und mehr als „Selbstversorger“ leben, weil man dem deutschen Staat grundsätzlich misstraut.

Deutlich wurde aber auch: Durch das Feuer, das im Zuge des Polizeieinsatzes in dem Gebäude an der Bergstraße ausbrach, geriet die Familie in den Ruin. Sie hatte ihr Vermögen nicht bei einer Bank liegen, sondern bewahrte es aus eben diesem Misstrauen den Institutionen gegenüber in bar im Haus auf. Als das abbrannte, ist das Geld der Familie mitverbrannt.

Alle Drei: Martinshorn nicht gehört

Insgesamt wirken die Darstellungen der Bobstadter Vermieterfamilie im „Reichsbürger“-Prozess nicht gerade überzeugend – vor allem, weil sich die Aussagen von Vater H., Mutter und Sohn sehr ähnlich sind. Obwohl alle (durchaus wahrscheinliche) Absprachen bestreiten, wirken die Aussagen unterm Strich wie abgesprochen. Die Familie geht von einem „Überfall“ der Polizei an jenem Aprilmorgen aus.

Die Familienmitglieder wurden am Dienstag von der Strafkammer intensiv zu dem Schusswechsel und den Minuten davor befragt. Als das SEK die Privatwohnung des wegen Mordversuchs angeklagten Ingo K. mit einer „Flex“ aufschneiden und stürmen wollte, hatten die A.s laut einhelliger Darstellung weder Blaulicht noch Scheinwerfer der Polizei gesehen, noch das ohrenbetäubend laute Martinshorn und die mehrfachen „Polizei“-Rufe per Megafon gehört. Das erscheint wenig glaubhaft: Die Familie lebte in der Dachwohnung überhalb des Angeklagten.

Alle Prozessbeteiligten hinter Panzerglas: In Stuttgart-Stammheim wird gegen im „Fall Ingo K.“ wegen mehrfachen Mordversuchs verhandelt. © Michael Weber-Schwarz

Im krassen Gegensatz zu den drei Zeugenaussagen stehen die Videomitschnitte aus den Helmkameras der Einsatzkräfte. Dort ist nämlich zeitgenau alles aus verschiedenen Perspektiven zu sehen und auch lautstark zu hören.

Für die Vermieter scheint dennoch klar: Der Polizeizugriff wegen des Waffenbesitzes von Ingo K. war ein staatlicher „Überfall“. Und: Die Videoaufnahmen der Behörden müssten deshalb Fälschungen sein.

Ziel: Unabhängigkeit vom Staat

Aus der Bekanntschaft in einem Motorradclub waren die Vier zu diesem Zeitpunkt bereits Freunde geworden. Und: Man teilte mit Ingo K. wohl auch das Gedankengut. Laut Ermittlungen sollen die A.s wie der Angeklagte der „Reichsbürger“-Szene angehören. Der seit mehreren Jahren vorangetriebene „Selbstverwaltungsbauernhof“ sollte die Familie unabhängig vom Staat machen. Gegen die Familie wird derzeit ebenfalls vom Staatsanwalt ermittelt.

In wie weit etwa Familienvater H. in die Verstöße gegen das Waffen- und Kriegswaffengesetz verwickelt ist, blieb vor dem OLG unklar. H. verweigerte die Aussage, um sich nicht eventuell selbst zu belasten. Das sei auch sein Recht als Zeuge, so der Vorsitzende Richt er.

Ehefrau: Haus wurde angezündet

Die Frau des Vermieters bezeichnete den SEK-Einsatz vor Gericht als einen „Überfall“. Sie sagte aus, dass die Polizei das Wohnhaus – wohl durch das Werfen einer Nebel- oder Blendgranate – angezündet habe. Sie habe die Polizisten mehrfach auf den beginnenden Brand hingewiesen. Harsch hätten diese ihr den Mund verboten und versucht, sie aus dem Einsichtsbereich zu bringen. Die Mutter hatte das Haus zu diesem Zeitpunkt nach Polizeiaufforderung verlassen und war in einem Einsatzfahrzeug festgesetzt worden. Dass der Brand durch einen Granateinsatz entfacht wurde, das hält ein gerichtlicher Sachverständiger durchaus für möglich.

Der Vermieter H. wartete bei seiner Befragung mehrfach mit typischen „Reichsbürger“-Aussagen auf. Seine Überzeugungen habe er mit Ingo K. geteilt – den er (vom Angeklagten unwidersprochen) als Wähler der AfD outete. Ingo K. hatte seine einschlägigen Verschwörungs-Äußerungen bei vorhergehenden Prozesstagen stets als nicht ernst gemeint abgetan.

Details zum Feuergefecht mit der Polizei gaben alle drei Zeugen nicht preis. Man sei sich im Inneren des Hauses zwar mehrfach begegnet, doch wer da vor dem Haus aufmarschiert sei, das habe man zu keinem Zeitpunkt geahnt. Fast schon kurios die Aussage von Vater H.: Während der Schusswechsel sei er erst einmal zur Kaffeemaschine gegangen, um sich ein Getränk aufzubrühen. Denn ohne seinen Morgenkaffee komme er einfach nicht in Gang. H. geht davon aus, dass Ingo K. nach dem „Angriff“ der Polizei „aus Selbstschutz zurückgeschossen“ habe.

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Polizei „nur Dienstleister“

Polizisten, lässt H. wissen, seien eine Art „Dienstleister“, deshalb hätten sie auch „nur“ einen Dienstausweis. Auch Behördenvertreter seien zwar grundsätzlich guten Willens, aber in vielen Bereichen gar nicht amtlich legitimiert. Wahrscheinlich ist für H., dass hinter der Bundesrepublik ganz andere Mächte stünden, die die Strippen ziehen. Wer das konkret sein soll, sagte H. nicht. Szenetypisch (aber falsch) ist die Auffassung, dass die Republik bis heute von Besatzungsmächten kontrolliert werde – und die wiederum „in Wirklichkeit“ wahlweise aus ominösen Dunkelmächten, Außerirdischen oder dem „Weltjudentum“ bestehen. Letzteres ist eine Behauptung, die sich aus der rassistischen und antisemitischen Ideologie des Nationalsozialismus speist. Adolf Hitler hatte dieses Deutungsmuster in seiner Hetzschrift „Mein Kampf“ (1925/26) bereits ausformuliert.

Der Staat und seine Amtsträger werden von Ingo. K. und seinem Freund H. nicht akzeptiert: Als K. seine Pistole – die er zunächst über Jobs im Bewachungsgewerbe legal besessen hatte – beim Landratsamt abgeben sollte, hatte er dort wohl mit einem eigenen Schriftsatz vom Amt eine Unterschrift über die „Einziehung“ gefordert. Umkehr der Verhältnisse: Ingo K. hatte sich offenbar hoheitliche Befugnisse selbst angemaßt – der Schluss, den man aus H.s Zeugenaussage ziehen kann.

Redaktion Im Einsatz für die Lokalausgabe Bad Mergentheim

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