Bobstadt/Stammheim. Im Kern geht es um mehrfachen Mordversuch: Ingo K. wird zur Last gelegt, vor rund einem Jahr gezielt versucht zu haben, mehrere Polizisten zu töten. Jetzt steht der 55-Jährige als Angeklagter vor Gericht: Im Prozessgebäude Stuttgart-Stammheim.
Vor einem Jahr, am 20. April: Es fallen Schüsse aus einem Schnellfeuergewehr im Boxberger Ortsteil Bobstadt, nur gut zehn Kilometer Luftlinie von Bad Mergentheim entfernt. Ein Beamter eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) wird an beiden Beinen verletzt. Einen zweiten Polizisten rettet wahrscheinlich nur sein ballistisches Spezialschutzschild: Durch die Wucht eines Schusses, der die Panzerung aber nicht durchdringt, wird auch er verletzt. So schildert ein Vertreter des Generalbundesanwalts im Schnelldurchlauf den Tatkomplex.
Hauptangeklagter in dem Fall: Ingo K., heute 55 Jahre alt. Er wird in Handschellen von zwei Justizbeamten aus der Untersuchungshaft in den Gerichtssaal geführt. In einem separaten, mit Spezialscheiben gepanzerten Bereich verfolgt K. den Prozessauftakt – seinen Strafprozess.
Stärkste Sicherheitsvorkehrungen
Die Sicherheitsmaßnahmen im Gerichtsgebäude sind am Mittwochmorgen enorm. Gleich nebenan liegt die berühmt-berüchtigte Vollzugsanstalt Stammheim. Das heutige Gebäude hat ein 1975 in Betrieb genommenes Mehrzweckgebäude ersetzt, das vor allem durch die Prozesse gegen die Rote Armee Fraktion (RAF) bundesweit bekannt wurde.
Zahlreiche Justizbeamte durchsuchen jetzt im Eingangsbereich alle Prozessbeobachter. Mitgebrachte Gegenstände werden genau durchleuchtet. Sogar Gürtel müssen abgegeben werden. Nichts potenziell Gefährliches darf in den Gerichtssaal mitgenommen werden. Nur ausgewählte Journalisten dürfen kurz fotografieren oder filmen. Das Medieninteresse ist groß am ersten Tag der Hauptverhandlung im „Staatsschutzverfahren gegen einen mutmaßlichen Reichsbürger wegen mehrfachen versuchten Mordes“, wie es offiziell vonseiten des Oberlandesgerichts (OLG) heißt.
Ingo K. wirkt gelöst, fast amüsiert. Er grüßt winkend über gut zehn Meter Entfernung und zwei kugelsichere Scheiben hinweg ins Publikum – offensichtlich sitzen dort Bekannte von ihm. Die langen Haare hat er teilweise zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden. Auch seinen Vollbart hat er noch – wie in einem Privatvideo, das seit vier Jahren im Internet steht. Dort prügelt der frühere Kampfsporttrainer K. mit Fäusten und Füßen auf einen Leder-Sandsack ein. In einem T-Shirt der Marke „Alpha Industries“, beliebt auch in rechten Kreisen.
Darum wird es an den zahlreichen Prozesstagen bis in den Herbst hinein (auch) gehen: Ist Ingo K. ein „Reichsbürger“, der eine militante und „staatsfeindliche Geisteshaltung“ hat? Der Staatsanwalt geht in seiner Anklageschrift davon aus. Seine Gesinnung habe K. zu „gemeingefährlichen Mitteln“ greifen lassen: Mehrere Waffen habe er in Bobstadt gehortet, darunter auch ein „G3“ des deutschen Waffenherstellers Heckler und Koch. Das wurde bis 2002 für die Bundeswehr gebaut. Auch andere Fabrikate habe K. zugriffsbereit gelagert – ohne Genehmigung. Bei der Munition hatten die Ermittler ganz genau gezählt: Sie haben 5116 Patronen im Haus gefunden.
Der Angeklagte sei der festen Überzeugung, dass das „Deutsche Reich“ fortbestehe. Deshalb habe er auf einem eingefriedeten Grundstück gelebt, das er als nicht zur Bundesrepublik gehörig betrachtet habe, so die Anklage.
Polizist in beide Beine getroffen
Zu dem Überfall auf die SEK-Polizisten sei es so gekommen: K. hatte wegen einer früheren Tätigkeit im Bewachungsgewerbe zunächst noch legal eine Pistole in Besitz. Die zuständige Behörde habe die Waffen-Erlaubnis 2021 widerrufen. Die Pistole sollte eingezogen werden. K. habe die Waffe aber nicht abgegeben, also musste die Sicherstellung durch Polizeikräfte erfolgen.
Ingo K. habe beschlossen, Polizeibeamte „zu erschießen“, als diese aus zwei Fahrzeugen auf das Haus vorrückten. Das SEK hatte sich mit Martinshorn und Lautsprecheransagen deutlich angekündigt. Durch Uniform und Aufdrucke seien sie klar als Polizeikräfte zu erkennen gewesen. Ingo K. habe durch die Schlitze seiner heruntergelassenen Rollläden gespäht und mit einer M 70 (wohl ein Nachbau einer AK-47 „Kalaschnikow“) das Feuer eröffnet. Vier Beamte hatten sich dem Gebäude genähert. Einer versuchte mit einem Schneidegerät einen Rollladen zu öffnen. Von Kugelsplittern in die Beine getroffen sei ein Polizist unter „lauten Schmerzensschreien“ zu Boden gegangen.
Als seine Kollegen den Verletzten in Deckung ziehen wollten, habe K. auch diese beschossen. In „Tötungsabsicht“, so die Anklage. Die Polizisten seien für den Schützen Vertreter einer „aus seiner Sicht illegitimen Staatsordnung“ gewesen. K. habe seine Schusspositionen im Haus gewechselt. „Nur durch Zufall wurden keine weiteren Beamten verletzt“.
Bis heute an der Fassade zu sehen: Kugeln trafen auch ein Nachbarhaus. Dort leben Privatpersonen. Deren Verletzung oder Tötung habe K. „billigend in Kauf genommen“. Der Schütze habe mehrfach auch ganze Garben abgefeuert. Irgendwann habe K. keine Aussicht auf „Erfolg“ seiner Schießereien mehr gesehen, deshalb habe er dann aufgegeben und sich festnehmen lassen.
Ingo K. will nichts zur Sache sagen
Kaum mehr als die rohe Anklageschrift gab es am ersten Prozesstag. Fest steht aber, dass auch ein psychiatrischer Sachverständiger gehört werden soll. Ingo K. wolle, so der Vorsitzende Richter des Strafsenats, zwar Angaben zu seiner Person machen, ansonsten seien aber von K. bislang „keine weiteren Einlassungen vorgesehen“. Voraussichtlich am 24. April wird die Verhandlung fortgesetzt.
Info:
Grundsätzlich wird auch ein Mordversuch mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft und unterliegt derselben Verjährungsregel wie ein Mord. Das Gericht kann die Strafe aber mildern. In diesem Fall beträgt die Strafe bis zu 15 Jahre Gefängnis.
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