Bobstadt/Stammheim. Vierzehnfacher versuchter Mord an Polizisten bei einer schweren Schießerei im Boxberger Ortsteil Bobstadt – dieser Tatvorwurf steht vor dem 7. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart seit Monaten zur Verhandlung. Dem 55-jährigen deutschen Staatsangehörigen Ingo K. wirft die Bundesanwaltschaft ein Kapitalverbrechen vor, wobei durch den ehemaligen Kampfsporttrainer Mordmerkmale klar verwirklicht worden seien. Dafür hatte die Anklage zuletzt eine lebenslängliche Haft gefordert – mit anschließender Sicherungsverwahrung.
Auf Freispruch plädierte dagegen am Montag die Verteidigung. Mordmerkmale könne man nicht feststellen. Vielmehr sollen es Polizei und das damals zuständige Gericht gewesen sein, die bei der Hausdurchsuchung am frühen Morgen des 20. April 2022 in Bobstadt gravierende Verfahrens- und taktische Vorgehensfehler gemacht hätten.
„Als die Polizei kam, schoss er: Wirrer Reichsbürger außer Kontrolle“, titelte „Bild“ im Frühjahr. Rechtsanwalt Thomas Seifert sieht den Vorgang in Bobstadt differenzierter und spart nicht mit Kritik an den Behörden: Die Polizeibeamten seien mit unverhältnismäßigen Mitteln auf Privatgrund vorgedrungen. Sie hätten Ingo K. schlicht zur Herausgabe seiner zunächst legal besessenen Handfeuerwaffe auffordern müssen.
Stattdessen eine Art Überfall durch schwer bewaffnete Polizisten: Ingo K. sei von einem unmittelbaren Angriff auf Leib und Leben ausgegangen und habe sich und seinen psychisch kranken Sohn in Notwehr verteidigt. Der Selbstschutz sei deshalb „statthaft“ gewesen. K. habe instinktiv gehandelt, als die Polizeikräfte am Tattag versucht hatten, den Rollladen seiner Wohnung aufzuflexen.
Lebenslauf eines Verlierers
Natürlich spiele auch die psychische Disposition des Angeklagten eine wichtige Rolle. Seifert skizzierte am Prozesstag den Lebensverlauf K.s als den eines regelrechten Verlierers: Aufgewachsen in der ehemaligen DDR mit einem gewalttätigen Vater und einer zum Esoterischen neigenden Mutter. Eine Forstlehre, mehrfach gescheiterte berufliche Stationen im Bewachungsgewerbe, Insolvenzen, zwei Ehen, die in die Brüche gingen. Nach der Wende dann ein gravierender biografischer Bruch samt einem starken Identitätsverlust – wie ihn damals laut Verteidigung viele Menschen in Ostdeutschland erlitten hätten.
Alle Faktoren hätten in einer persönlichen „Selbstüberhöhung“ gemündet: K. habe sich, wie viele „Verschwörer“ in der Corona-Pandemie, als „Wissender“ angeblicher übler Wahrheiten über den Staat begriffen und daraus seine Identität gestärkt.
Familie A. als wahre Reichsbürger
Nach der Kündigung seiner Wohnung im Niederstettener Ortsteil Rüsselhausen habe der Angeklagte bei der Bobstadter Familie A. Aufnahme gefunden. Dort habe er auch so etwas wie „Familienglück“ erlebt, verbunden mit einem „starken Dankbarkeitsgefühl“.
In der Folge sei der Angeklagte vor allem von seinen Vermietern, der Familie A., verstärkt zu „Reichsbürgergedanken“ angestiftet worden. Ingo K. habe sich förmlich „in den Händen eines Reichsbürgers“ befunden; gemeint war Familienvater Heiko A.. Ingo K. selbst durchblicke die komplexe demokratiefeindliche Ideologie gar nicht und sei von den Ideen der Familie „überfordert“ gewesen. Deren Verschwörungsthesen hätten auf den Angeklagten „wie eine Droge“ gewirkt. Dass K. selbst kein Reichsbürger sei, das zeige schon dessen „Hochachtung“ vor dem Stammheimer Strafsenat.
Auch im Schriftverkehr mit der Waffenbehörde wegen der Pistole der Marke „Glock“ sei einiges schief gelaufen. So könne nicht bewiesen werden, dass K. amtliche Post aus Tauberbischofsheim überhaupt erhalten habe. Der zuständige Postbote habe eingeräumt, dass er Post schon mal „unter der Türe durch“ schiebe. Eine rechtlich einwandfreie Zustellung bezweifelte Seifert. Es könne also sein, dass sein Mandant gar keine Briefe von der Waffenbehörde erhalten habe – am Tattag also von der Polizei durchaus überrascht gewesen sei.
Die eingesetzten Spezialkräfte der Polizei seien auch nicht „arglos“ (ein Mordmerkmal bezogen auf Opfer) in die Schießerei hinein geschlittert, sondern sie seien sich der Gefahrenlage bewusst gewesen. Es sei ja um die Einziehung einer Handfeuerwaffe mit dem damit verbunden Gefahrenpotenzial gegangen. Deshalb hätten die Beamten auch Schutzausrüstung getragen und seien mit gepanzerten Fahrzeugen angerückt. Trotz mehrerer Schusssalven aus einem Schnellfeuergewehr auf die Polizisten (von denen einer schwer verletzt wurde): Die gezielte Tötung von SEK-Beamten sei nicht das „eigentliche Ziel“ von Ingo K. gewesen, hielt die zweite Verteidigerin, Andrea Combé fest.
Einsatzkräfte „hochgerüstet“
Da es sich um eine „vulnerable Situation“ für die gut ausgebildeten und „hochgerüsteten“ Einsatzkräfte gehandelt habe, seien diese „besonderes wachsam“ gewesen. „Wehrlos“ seien sie jedenfalls nicht gewesen. Die Bundesstaatsanwaltschaft wiederum wirft K. „Heimtücke“ wegen Schüssen durch die herabgelassenen Rollos vor. Aspekte wie heimtückisches Vorgehen oder „niedrige Beweggründe“ zählen zu den Mordmerkmalen.
Ob Ingo K. alleine auf die Polizeibeamten des Spezialeinsatzkommandos geschossen habe – auch das sei laut Verteidigung fraglich. Immerhin habe man auch an den Händen von zwei Mitgliedern der Familie A. Schmauchspuren festgestellt. Die im Wohnhaus aufgefunden Kriegswaffen bei K. – sie seien „Zufallsfunde“ einer „unberechtigten Hausdurchsuchung“, so Anwalt Thomas Seifert. Fakt ist: Im Zuge der Hausdurchsuchung wurden in dem Wohnkomplex zwei Waffenkammern, Kriegswaffen und tausende Schuss Munition gefunden. Neben den Waffen wurden zahlreiche extremistische CDs und NS-Devotionalien sichergestellt.
Opfer fehlgeleiteter Ängste
Zum Thema Sicherungsverwahrung nach einer Haftstrafe: Eine „besondere Schwere der Schuld“ könne die Verteidigung nicht erkennen. Keines der Opfer sei akut lebensgefährlich verletzt worden. Der „Taterfolg“ sei folglich ausgeblieben. Auch einen „Hang“ zu Gewalttaten könne man Ingo K. nicht nachweisen. Der Angeklagte „wurde Opfer seiner fehlgeleiteten Ängste.“ K. zeige „Empathie für Gewaltopfer“ und sei bisher nicht als Gewalttäter in Erscheinung getreten. Wenn der Strafsenat die Razzia als „rechtswidrige Hausdurchsuchung“ werte, dann müsse Ingo K. trotz der Schüsse freigesprochen werden. Es sei Aufgaben der Rechtsanwälte, gerade die Fehler der Justiz zu „benennen“.
Schließlich sei bis heute unklar, ob Ingo K. überhaupt für die Tat strafrechtlich verantwortlich gemacht werden könne: Wahrscheinlich habe dieser vorher „Alkohol und THC“ (Anm.: der berauschende Wirkstoff von Hanfpflanzen) konsumiert. Für Verteidiger Seifert eine Schlamperei: Blutwerte und Alkoholgehalte in Weinflaschen seien nicht gesichert worden, wohl „weil sie nicht ins Bild“ gepasst hätten. Es sei bei den Ermittlungen vor allem darum gegangen, seinen Mandanten zu belasten, so Seifert.
Ingo K. bedauerte in seinem Schlusswort die Vorfälle vom Frühjahr 2022. „Grüß Gott, hohes Gericht“, begann K. seine persönliche Stellungnahme – in schwarzem Hemd und Anzugjacke, die langen Haare wie üblich teilweise nach hinten gebunden. „Es tut mir unendlich leid“, dass Menschen verwundet worden seien. Er wolle irgendwann die verletzten Beamten treffen, „um uns beiden Frieden zu geben.“ Er habe in einer „unkontrollierten Panikreaktion“ gehandelt, „zum Schutz meines Sohnes“. Ingo K. entschuldigte sich „bei allen, die Schaden erlitten haben“. Er hoffe auf ein „gerechtes Urteil“. Das soll am 15. November verkündet werden.
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