Netzwerk gegen Rechts Main-Tauber - Kampagne zu Ereignissen in Bobstadt sowie zur „Reichsbürger“-Szene gestartet. Polizeieinsätze und Schüsse sorgten für Aufsehen

„Reichsbürger meiden in der Regel die Öffentlichkeit“

Das Netzwerk gegen Rechts Main-Tauber startet die Kampagne „Wir fordern Aufklärung!“, um die Hintergründe der Tat des „Reichsbürgers“ Ingo K. in Bobstadt zu beleuchten. Die FN sprachen mit dem Rechtsextremismus-Experten Timo Büchner.

Von 
Sascha Bickel
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Demonstranten aus der rechten Szene gestikulieren und drohen Gegendemonstranten auf diesem Beispielbild Gewalt an. Über Rechtsextremisten und die „Reichsbürger“-Szene im Main-Tauber-Kreis sprachen die Fränkischen Nachrichten mit einem Experten – auch im Hinblick auf die großen Polizeieinsätze und die Vorfälle im April und Mai in Boxberg-Bobstadt. © dpa

Boxberg/Main-Tauber-Kreis. Neonazis und „Reichsbürger“ im Main-Tauber-Kreis und in der Region stehen im Zentrum dieses Interviews mit dem Rechtsextremismus-Experten Timo Büchner.

Büchner studierte Politische Wissenschaften und Jüdische Studien in Heidelberg. Er ist Teil der Recherche Nordwürttemberg und er veröffentlicht regelmäßig Beiträge zur extremen Rechten im Nordosten Baden-Württembergs – im Hohenlohekreis, Main-Tauber-, Neckar-Odenwald-Kreis und Landkreis Schwäbisch Hall. Vor knapp zehn Jahren gründete er die Initiative „Mergentheim gegen Rechts“, die inzwischen Netzwerk gegen Rechts Main-Tauber heißt.

Wie stark ist der Rechtsextremismus aus Ihrer Sicht im Main-Tauber-Kreis verbreitet?

Timo Büchner: Grundsätzlich gilt, dass der Rechtsextremismus kein homogenes, sondern ein heterogenes Spektrum ist. Das heißt: Der Rechtsextremismus reicht von der AfD bis zur militanten Neonazi-Szene.

Im Main-Tauber-Kreis konnte in der jüngsten Vergangenheit der Schulterschluss des Spektrums beobachtet werden: In Bad Mergentheim veranstaltete die AfD Main-Tauber im Dezember 2021 eine Demonstration gegen die angebliche „Impfdiktatur“. An der Demonstration nahmen zwei Dutzend Neonazis aus dem Umfeld der rechtsextremen Kameradschaft „Nord Württemberg Sturm“ teil. Neonazis haben einen Journalisten bedrängt.

Die Demonstration, an der mehrere hundert Menschen teilnahmen, hat gezeigt, welch rechtsextremes Potenzial der Nordosten Baden-Württembergs hat.

Welche Kenntnisse haben Sie über die „Reichsbürger“-Szene im Kreis?

Büchner: Im Vergleich zur AfD und zur militanten Neonazi-Szene meiden „Reichsbürger“ in aller Regel die Öffentlichkeit. Sie machen keine öffentlichen Veranstaltungen und haben keine öffentlichen Social-Media-Kanäle. Deshalb liegen mir über die Aktivitäten der „Reichsbürger“-Szene im Main-Tauber-Kreis nur wenige Informationen vor. Allerdings dürften Landratsamt und Polizei über detaillierte Informationen zur „Reichsbürger“-Szene verfügen. Denn „Reichsbürger“ suchen die Auseinandersetzung mit der Verwaltung. Schließlich wollen „Reichsbürger“ keine Steuern zahlen.

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Inwieweit handelt es sich hier um die gleichen Personen oder sympathisieren die rechte Szene und die „Reichsbürger“ miteinander?

Büchner: Im Allgemeinen haben AfD, Neonazis und „Reichsbürger“ eine Vielzahl ideologischer Schnittmengen. Sie verbreiten teils antisemitische, teils rassistische Verschwörungserzählungen und lehnen das politische System der Bundesrepublik ab.

Die ideologische Nähe wird am Fall Bobstadt deutlich. Auf dem Areal wurden rechtsextreme Fahnen und CDs militanter Neonazi-Bands wie „Oidoxie“ gefunden. „Oidoxie“ zählt zum rechtsterroristischen Netzwerk „Combat 18“. Das bedeutet übersetzt: Kampftruppe Adolf Hitler. Das spricht für eine Überlappung der Neonazi- und der „Reichsbürger“-Szene.

Werden die Probleme mit der rechten Szene und den „Reichsbürgern“ im Main-Tauber-Kreis ausreichend ernst genommen, von Polizei, Behörden und Politikern?

Büchner: Ich möchte die Frage mit Blick auf die Geschehnisse in Bobstadt beantworten: Nein, die Probleme wurden in der Vergangenheit nicht ernstgenommen. Im Gegenteil. Als der stellvertretende Ortsvorsteher im Jahr 2016 eine rechtsextreme Musikgruppe nach Bobstadt eingeladen hatte, suchte das Netzwerk gegen Rechts Main-Tauber das Gespräch mit dem Bürgermeister, dem Ortsvorsteher und der Polizei.

Man betonte immer wieder, wie nett der stellvertretende Ortsvorsteher sei, wie sehr er sich engagiere. Der Auftritt der Musikgruppe wurde heruntergespielt. Man hat dem Netzwerk die Nutzung städtischer Räume zur Durchführung einer öffentlichen Info- und Protestveranstaltung in Boxberg verwehrt.

Woran mangelt es?

Büchner: Ehrlichkeit. Rechtsextremismus ist ein Problem in unserer Gesellschaft. Wer das Problem verharmlost oder verschweigt, ist unehrlich. Die Anerkennung des Problems ist der erste Schritt, um das Problem anpacken zu können.

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Was ist aus Ihrer Sicht gegen die Extremisten und Anti-Demokraten zu tun?

Büchner: Es braucht Aufklärung. Viele können’s nicht mehr hören, ich weiß. Aber ehrlich gesagt: Wenn inmitten eines Dorfes eine riesige Tyr-Rune hängt – ein Symbol aus dem Nationalsozialismus, das bis heute in der Neonazi-Szene genutzt wird – und niemand gewusst haben will, was das ist, braucht’s Aufklärung. Menschen müssen über die Codes der extremen Rechten informiert und müssen ermutigt werden, Stellung gegen Neonazis & Co zu beziehen.

Wo sind die Hotspots von rechter Szene und „Reichsbürgern“ im Nordosten Baden-Württembergs? Welche Städte und Gemeinden sind besonders gefordert?

Büchner: Es gibt aus meiner Sicht nicht den Hotspot in der Region. AfDler, Neonazis und „Reichsbürger“ wohnen in unterschiedlichen Orten der Region und erfahren mal Schweigen, mal Widerspruch, mal Zustimmung durch die örtliche Bevölkerung.

Die extreme Rechte ist miteinander vernetzt. Aus Vernetzung folgt Organisierung, aus Organisierung folgen Taten. Deshalb ist die Aufklärung über die Vernetzungen so wichtig.

Gibt es eine rote Linie, die gut erklärbar ist und an der man schnell erkennen kann, wann ein „quer denkender Bürger“ nicht mehr auf den Grundlagen unserer Gesetze handelt und stattdessen in extremistische Bereiche abgerutscht ist?

Büchner: Ja, es gibt eine rote Linie: das Grundgesetz und das Strafgesetzbuch.

Wer verschwörungsideologische Inhalte auf der Straße verbreitet, wer rassistische Hetze gegen Migranten im Netz schürt, wer antisemitischen Musikgruppen eine Bühne bietet, greift die Menschenwürde und den gesellschaftlichen Frieden an. Da sind nicht nur die Behörden gefragt, sondern auch wir als Gesellschaft. Als Freunde, als Nachbarn, als Dorfgemeinschaft.

Redaktion Stellvertretender Reporter-Chef; hauptsächlich zuständig für die Große Kreisstadt Bad Mergentheim

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