Wertheim. Malerisch gelegene Altstadt am Fuße einer beeindruckenden Burgruine. Industrielles Zentrum der näheren Wirtschaftsregion. Idyllische Landschaft rund um die Stadt mit Dörfern, die ihr eigenes Seelenleben pflegen. Wertheim ist eine vielfältige Kommune. Früher Grafschaft, heute Große Kreisstadt.
Die nördlichste Gemeinde Baden-Württembergs hat kulturell recht wenig zu tun mit den politischen Oberzentren. Von dort mitunter als „Badisch Sibirien“ belächelt, blicken die tauberfränkischen Wertheimer, ausgestattet mit einem gesunden Selbstbewusstsein, eher gelassen ins Schwäbische. „Wir werden zwar von Stuttgart aus regiert, aber machen unser eigenes Ding“ – könnte man die Attitüde zusammenfassen.
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Kein Wunder: Das mainfränkische Würzburg erreicht man mit dem Auto in einer halben Stunde, die Fahrt in die hessische Metropole Frankfurt dauert eine gute Stunde – beide Städte bestens über die Autobahn angebunden.
Doch nicht nur die Nähe zu Metropolregionen ist ein Standortvorteil. Es sind auch die alteingesessenen Menschen und jene, die dazukommen sind.
Wirtschaftlich Fahrt aufgenommen hat die Main-Tauber-Stadt erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Zuvor gab es kaum Industrie in der kleinbürgerlich geprägten Gemeinde, die bis zu Napoleons Aufräumarbeiten zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch von einem Fürstenhaus regiert wurde. Im neu geordneten Deutschland war das Territorium plötzlich geteilt. Das Stück nördlich des Mains fiel das Königreich Bayern, das südliche ans Großherzogtum Baden. Von der industriellen Revolution wenig betroffen, prägten weiterhin Handel, Handwerk, Landwirtschaft das Leben.
Nach dem Krieg holte Wertheim die Industrialisierung im Sauseschritt nach. Großen Anteil daran hatte die Ansiedlung der Glasindustrie. Viele Unternehmen aus dem Osten siedelten sich an. Die findigen Unternehmer kamen mit den sowjetischen Verhältnissen dort nicht zurecht und bauten neue Betriebe am Main auf.
Gleichzeitig trafen jede Menge Migranten in der Stadt ein. Vertriebene gezwungenermaßen, auch Fliehende, weil sie sich mit den Zuständen in der Heimat nicht abgeben wollten. Die Industrie konnte auf diese Weise auf ein großes Reservoir an Arbeitskräften zurückgreifen. Neue Stadtteile entstanden: Zunächst wurde die Siedlung in Bestenheid aus dem Boden gestampft, später der Stadtteil Wartberg hochgezogen. Migration bleibt bis in die Gegenwart ein Thema.
Die Entwicklung der Trabantensiedlung Wartberg und der ehemaligen US-Kaserne auf dem Reinhardshof zeigen dies beispielhaft. Es gab mehrere Migrationswellen: Den Vertriebenen der Nachkriegszeit folgten Gastarbeiter. Sie gründeten Familien, etliche Menschen blieben an Main und Tauber, kehrten nicht in ihre Heimat zurück. Heimat, der Ort, an dem das Herz zu Hause ist, blieb Wertheim. Nachdem das US-amerikanische Militär abgezogen war, kamen in den 1990-er Jahren die Russlanddeutschen. Mit der Schaffung des Binnenmarktes für Arbeitskräfte folgten Menschen aus den neuen EU-Ländern. Auch Asylsuchende aus dem Nahen Osten trafen im Rahmen der Flüchtlingswelle an Main und Tauber ein. Die Migration, stets mit Herausforderungen verbunden, füllte das Reservoir an Arbeitskräften und hielt die Einwohnerzahl einigermaßen stabil.
Eine Flächengemeinde wie Wertheim – die Gemarkung ist so groß wie die der 320 000-Einwohner-Stadt Mannheim – muss sich eine relativ teure Infrastruktur leisten. In sich ist die Große Kreisstadt, die Mitte der 70-er Jahre mit der Eingemeindung von zahlreichen Ortschaften ihre heutige Struktur annahm, ohnehin heterogen. Der Dialekt der südlichen und westlichen Dörfer unterscheidet sich sehr stark von denen im Osten. In Urphar, Bettingen, Lindelbach, Dietenhan, Kembach und Dertingen wähnt man sich in Mainfranken. Leicht erklärt am Wörtchen „Nein“: In Sonderriet sagt man „Naa“, in Nassig (drei Kilometer weiter) „Noa“. Und in den östlichen Ortschaften wandelt es sich zum: „Noo“.
Die Dörfer – Rivalitäten sind mittlerweile weniger ausgeprägt – leben und pflegen ihre Kultur ausgiebig – geprägt von Vereinen. In der Kernstadt hält ein Historischer Verein die reiche Geschichte am Leben. Es gibt einen Kleinkunstverein („Conventartis“), der die kulturellen Lücken schließt, die sich in einer Provinzstadt zwangsläufig ergeben. Eine emsige Musikschule bildet Nachwuchs aus. Klassische Konzerte gibt es regelmäßig im Kloster Bronnbach und im Hofgarten-Schlösschen, wo dank einiger Stifter eine beeindruckende Kunstsammlung zu sehen ist.
Der „zugezogene“ Oberbürgermeister, der vor knapp drei Jahren erstmals in die Stadt kam, hat die Menschen in den Stadtteilen und Dörfern überwiegend „als herzlich, offen und bereit, sich auf Neues und Neue einzulassen, kennengelernt“, so Markus Herrera Torrez gegenüber den FN. „Gut, manchmal stößt man vielleicht auf eine raue Schale. Aber dahinter verbirgt sich fast immer ein weicher Kern“, ergänzt das Stadtoberhaupt.
„Wenn Sie jemanden davon überzeugen wollten, nach Wertheim zu ziehen: Welche Vorteile bietet die Stadt?“, fragten die FN den Rathauschef. „Weil wir nahezu alles bieten, was eine Stadt lebens- und liebenswert macht. Die Einschränkung ‚nahezu’ deshalb, weil ich nicht überheblich wirken will.“ Einer der wichtigsten Vorteile sei die „ausgezeichnete Familienfreundlichkeit, die uns jetzt schon mehrfach mit Brief und Siegel bestätigt worden ist“. Wertheim sei die „Stadt der Weltmarktführer, unsere Firmen bieten zahlreiche attraktive und sichere Arbeitsplätze. Ohne zu sehr ins Schwärmen geraten zu wollen, aber landschaftlich liegt das Paradies praktisch direkt vor der Haustür. Von den Freizeit- und Engagement-Möglichkeiten in unseren mehr als 300 Vereinen ganz zu schweigen. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus den vielen Vorzügen Wertheims“, so der junge Oberbürgermeister.
Wo hält er sich selbst gerne auf? „In Wertheim gibt es viele schöne Plätze und Orte, die ich wahrscheinlich noch gar nicht alle kennenlernen konnte“. Die Natur habe er noch einmal neu und besonders schätzen gelernt, „seitdem wir einen Hund in der Familie haben“. Besonders gern gehe er zum Sportplatz FC Eichel. „Ich bin sehr froh, dass ich meinem Hobby, dem Fußballspielen, auch als Oberbürgermeister noch nachgehen kann. Und das sogar regelmäßig, wenn keine dienstlichen Gründe entgegenstehen“, sagt er.
Über dem Idyll hängt allerdings ein Damoklesschwert: Abwanderung und Überalterung. Wie in allen eher ländlich geprägten Landstrichen sehen die jungen Leute ihre Zukunft in den Ballungsgebieten. Nach dem Abi geht es oft auf die Universität, dort werden neue Netzwerke geknüpft. Attraktivere Jobs mit besserer Bezahlung locken.
„Brain drain“ nennt man das im Neudeutschen: Talente suchen ihre Chancen dort, wo sie ihre Kompetenzen am besten einsetzen und damit höheren Nutzen erzielen können. In die Heimat geht es dann nur noch, um die Eltern zu besuchen oder beim Altstadtfest alte Freunde zu treffen.
Diese Herausforderung birgt allerdings auch Chancen. Astronomische Immobilienpreise in den großen Städten zerstören den Traum der Landflüchtigen vom Idyll des Eigenheims. Selbst Besserverdiener scheitern an der Finanzierung einer familientauglichen Eigentumswohnung, vom Haus mit eigenem Grundstück ganz zu schweigen. Städte wie Wertheim haben diesbezüglich einiges zu bieten, selbst wenn auch hier die Preise steigen.
Mit der Digitalisierung (Home Office) werden Arbeitsplätze mobil. Eine gesunde Infrastruktur mit guter Kinderbetreuung und Schulbildungsmöglichkeiten vorausgesetzt, kann dies den ein oder anderen dazu verleiten, in die Provinz zu kommen oder zurückzukehren.
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