Weikersheim/Gerabronn. Wenn man heute Menschen auf der Straße fragt, wo Plüderhausen liegt, dann wissen seit einigen Wochen immerhin viele Einwohner der Stadt Weikersheim Bescheid: Aus der Kommune an der Rems – nahe am berühmten Kloster Lorch und dem römischen Limes gelegen – stammt Nick Schuppert, der designierte Bürgermeister von Weikersheim.
Vor hundert Jahren war Plüderhausen ganz sprichwörtlich noch deutschlandweit in aller Munde: Dort wurde nämlich die erste große Nudelfabrik auf deutschem Boden gegründet. Die Premiummarke „Schüle Gold“ ist älteren Nudelfreunden bis heute ein Begriff. Doch an die eier-goldene Vergangenheit erinnern in Plüderhausen selbst nur noch einige Privatimmobilien und ein Familiengrab. Der frühere, riesige Nudel-Industriekomplex gehört seit 1953 der Vergangenheit an.
Von Gerabronn nach Kassel
Was haben nun Plüderhausen, die Stadt Gerabronn im Hällisch-Hohenlohischen und der Kasseler Stadtteil Bettenhausen mit einander zu tun? Die Orte teilen eine interessante Industriegeschichte, die um das Jahr 1870 in Plüderhausen ihren Anfang nahm.
Durch Joint Ventures und Zusammenschlüsse entstand im Laufe der Jahre eine Art Gemeinschaftsunternehmen, das als „Schüle-Hohenlohe“ in Form einer Aktiengesellschaft ein regelrechtes Nudel-, Kakao- und Hafer-Imperium wurde. Die Konzernzentrale von Schüle Hohenlohe befand sich lange aber weder an der Rems noch auf der Hohenloher Ebene – sondern aus heutiger Sicht kurioserweise in Kassel, genauer gesagt im Stadtteil Bettenhausen. Das hatte vor allem mit der strategischen Lage mitten in Deutschland zu tun. Und mit den wirtschaftlichen und logistischen Möglichkeiten der Stadt Kassel.
Mitte des vorigen Jahrhunderts war dann alles dahin. Das Kaufverhalten änderte sich, man hatte die Folgen zweier Kriege zu verkraften. Und das gelang am Ende einfach nicht. Irgendwie schade, denn die heute überall erhältliche vegane Hafermilch mit Kakaogeschmack – nur scheinbar eine Erfindung der Moderne – die gab es schon vor hundert Jahren. Das Knowhow ging nur im Zuge der Konzernabwicklung zeitweise unter.
Noch im Dornröschenschlaf
Übrig sind vom Großkonzern baulich heute nur noch die denkmalgeschützte „Nudelburg“ in Gerabronn – die derzeit allerdings noch einen Dornröschenschlaf schlummert – und Gebäude in Kassel. Ein Würzburger Entwicklungsbüro hat sich inzwischen eine Option auf den Kauf des monumentalen Zentralgebäudes in Gerabronn gesichert. Was man dort genau plant, steht aber in den Sternen und wird von potenten Geldgebern abhängig sein.
Doch zurück in die Geschichte: Der Plüderhausener Bäcker Jakob Friedrich Schüle (1824 – 1889) war es, der sich in einer Zeit der rasanten wirtschaftlichen und technischen Beschleunigung zur Anschaffung einer Nudelmaschine entschied. Das war ein hölzerner Kubus mit Schneidewerk und Handdrehkurbel – in der Funktion ähnlich, wie die heute noch existierenden Handmaschinen italienischer Bauart. Fester Nudelteig kommt hinein, walzengeschnittene Nudeln kommen heraus.
Schüle suchte ab 1864 den Produkt- und Marktvorteil und fügte dem Nudelteig Eier hinzu. In Plüderhausen entstand die „Erste Deutsche Eier-Teigwaren-Fabrik“. Der Umsatz stieg, und Schüle baute einen Pferdegöpel zum Antrieb größerer Nudelmaschinen. Ein Arbeitspferd musste dabei im Kreis um eine Spindel laufen, die Pferdestärken wurden auf die Nudelschneider übertragen. 1872 kam die erste Dampfmaschine zum Einsatz. Das Geschäft brummte, neue Nudelformen wurden entwickelt und große Produktionsräume gebaut: ein „Makkaronibau“ beispielsweise. J.F. Schüle galt als „anregendes Beispiel von der aufstrebenden Betriebsamkeit des württembergischen Volkes.“ Für die Makkaroni wurden bereits hydraulische Pressen eingesetzt. Und elektrisches Licht gab es ab 1887 auch.
Sieben Millionen Eier im Jahr
Filialen entstanden u.a. in Frankfurt, Köln und im Elsass, man unterhielt auch internationale Kontakte. Schüle allein beschäftigte vor dem Ersten Weltkrieg fast 600 Mitarbeiter, verarbeitete sieben Millionen Eier im Jahr. Konserviert wurden die in großen Kalkwasser-Bassins in weitläufigen Kellergewölben.
Nach den Ersten Weltkrieg herrschten Materialknappheit und Inflation, die Absatzmärkte mussten neu organisiert werden. 1922 erfolgte aus wirtschaftlichen Gründen eine Verbindung mit der „Hohenlohe AG“ in Gerabronn. Die wiederum hatte Kontakte nach Kassel, denn der Hafer aus Hohenlohe wurde in der dortigen Sandershäuser Landstraße 134 zu beliebten und ärztlich als nahrhaft-gesund empfohlenen Instant-Hafer-Kakao-Würfeln verarbeitet. Würfel in die Tasse, heiße Milch oder Wasser darübergegossen, umrühren – fertig. 1923 war es dann soweit: Man fusionierte zur Firma „Schüle Hohenlohe AG Kassel-Plüderhausen-Gerabronn“.
Die „Haferflocken“ erfunden
Die spätere „Hohenlohe Nährmittelfabrik AG“ war bereits 1888 entstanden – als „Präservenfabrik Landauer & Co.“ Als Lager- und Handelshaus wurden Gemüse und landwirtschaftliche Produkte verwertet und ohne Chemie „präserviert“. Gemüse etwa wurde durch Trocknung haltbar gemacht. Man produzierte auch das, was bis heute „Haferflocken“ heißt – der Name ist eine echte Erfindung aus dem Hohenlohischen. Schützen ließ sich der Begriff damals allerdings nicht.
Seit 1892 existierte die Kasseler Haferkakao-Fabrik „Hausen“. Mit ihr gingen die Gerabronner zunächst eine Einkaufsgemeinschaft ein. 1916 wurden die beiden Unternehmen verschmolzen.
Um 1923 wartete der entstandene Großkonzern mit einer breiten Produktpalette auf: Nudeln in diversen Formen, Haferflocken, Hafermehl und -grütze, Paniermehl, Maismehl, Suppenwürfel, Kakao, Fertigsuppen, Schokolade. Später kamen Erbswurst, Grünkernerzeugnisse, Tapioka (Maniok) und Suppeneinlagen hinzu. Offizieller Sitz der Konsortiums war Gerabronn, die Hauptverwaltung lag in Kassel.
In der wirtschaftlichen Depressionsphase zwischen den Weltkriegen, geprägt durch hohe Arbeitslosigkeit, ging die Kaufkraft zurück. Der Absatz hochwertigerer Produkte wie Schokolade und Teigwaren ging zurück. 1933 konnte der Konzern keinen Überschuss mehr erwirtschaften. Erst 1938 war man aus der Talsohle heraus. Silo-Neubauten entstanden u. a. in Gerabronn.
In der NS-Zeit war die Firmenleitung „regierungszugewandt“, so ist es in einer Unternehmenschronik, die die Gemeinde Plüderhausen 2004 herausgegeben hat, vermerkt. Direktor Otto Bott war Ortsgruppenleiter der NSDAP von Plüderhausen. Sein Mit-Direktor Philipp Palm leitete die Fachgruppe „Nährmittel“ im Reichswirtschaftsministerium. In den Werken des Konzerns wurden auch Zwangsarbeiter eingesetzt. Man profitierte vom Krieg, denn es gab behördliche Produktionsaufträge zur Versorgung von Zivilbevölkerung und Militär.
Luftangriffe der Alliierten trafen vor allem Kassel schwer. Dort musste aufgrund von schweren Zerstörungen die Produktion stillgelegt werden. Die Maschinen wurden nach Gerabronn geschafft, schließlich wurde die gesamte Produktion nach Süddeutschland verlegt. Die Hauptverwaltung wechselte nach Plüderhausen.
Zerstörungen durch US-Dynamit
Im Sommer 1945 wurde das Gera-bronner Werk, bislang unbeschädigt, durch eine Dynamitexplosion in einem nahe gelegenen Depot der Amerikaner schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Kriegsverluste des Unternehmens wurden insgesamt auf sechs Millionen Mark beziffert.
Staatliche Stellen drängten nach 1945 auf Wiederherstellung und Vergrößerung der Fabriken, um die Bevölkerung zu versorgen. Doch den Werken mangelte es bis 1946 an Rohstoffen. Mit der Erholung der Produktion ging aber auch eine zunehmende Ablehnung von reinen Kohlehydraterzeugnissen in der Bevölkerung parallel – Fleisch und Fett sollten endlich wieder auf den Küchenzettel.
Mangelnder Absatz führte zu einer ersten Schließung des Gerabronner Werks Ende 1950, Kassel produzierte weiter Suppenwürze und Paniermehl, Gerabronn versuchte sich mit dem neuen Produkt „Kälberin“, einem Jungtierfutter. Auch Schüle wackelte wirtschaftlich und versuchte mit – heute seltenen und begehrten – Sammelbildern und Quartettkarten als Zugaben Kunden zu gewinnen. Es haperte aber deutlich an der Werbung für die Produkte.
Aktionäre verlieren Millionen
Im Jahr 1953 wurde die Produktion in Kassel und Gerabronn eingestellt. Der Konzern wollte sich ausschließlich auf die Teigwarenproduktion konzentrieren. Die Gläubiger hielten zunächst zwar still, doch am 27. Januar 1954 war auf den Beschluss der Aktionäre hin Schluss mit der „Schüle Hohenlohe AG“: Mit sieben Millionen Mark an Verbindlichkeiten, davon 4,7 Millionen Bankschulden. Die Aktionäre verloren über zwei Millionen an angelegtem Kapital.
Der Konkurrent Birkel in Endersbach – rund 20 Kilometer von Plüderhausen entfernt – übernahm Warenzeichen, Außendienst, Verkauf und einige Packerinnen von Schüle. Die Warenzeichen des Zweigs Haferflocken wurden von „Mondamin“ übernommen, heute eine Marke der britischen „Unilever“.
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