Tatort Tauber-Odenwald

Eigene Familie ausgelöscht: In Rot am See bricht sich der Wahnsinn Bahn

Sechs Todesopfer, zwei Schwerstverletzte, zwei ins Mark geschockte Jugendliche: Als Adrian S. im Januar 2020 in Rot am See seine eigene Familie auslöschte, hat eine ganze Kleinstadt ein Trauma erlitten. Spurensuche drei Jahre später.

Von 
Michael Weber-Schwarz
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Am Tag nach den tödlichen Schüssen in Rot am See: Einwohner haben Blumen und Kerzen an den Tatort gebracht. © dpa

Rot am See. So etwas passiert einem Journalisten eher selten: Dass eine ungeheuerliche Geschichte auch ein Stück weit zur eigenen wird. Man hält in der Regel professionelle Distanz, man berichtet über Ereignisse statt dabei zu sein. Beiträge, sie dürfen subjektiv gefärbt sein. Aber das „Ich“ gibt es normalerweise nicht. Bei den Morden in Rot am See gelingt dem Autor die Neutralität nicht ganz, weil die Tragödie auch ihn –mich – kalt erwischt hat.

Ich hatte einen freien Tag an diesem Freitag Ende Januar 2020. Ein Tag zum Entspannen also, und zum Fokussieren auf private Interessen: Damals hatte ich einen Besuch in der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall geplant. In der Mittagszeit ein unerwarteter Anruf übers Mobiltelefon von meiner Kollegin: „Es fallen Schüsse in Rot am See“, sagt sie.

Rot am See, das ist große S-Kurve in der Ortsmitte, das ist Bummeln auf der nahen Muswiese, das ist nahe der Tauberquelle und nur 20 Kilometer von Niederstetten entfernt. Rund 30 Fahrkilometer und etwa 40 Minuten später bin ich dort. „Irgendwie“ immer noch im Freizeitmodus ducke ich mich unter den Absperrbändern der ersten weiträumigen Polizeiabsperrung hindurch. Der Presseausweis hilft: Keiner der Beamten hält mich zurück.

Später wird es über die Nachrichtenagenturen nüchtern heißen: „Ein Sportschütze soll in Rot am See im Nordosten Baden-Württembergs (Landkreis Schwäbisch Hall) seinen Vater, seine getrennt lebende Mutter und vier weitere Verwandte erschossen haben.“ Die Polizei teilt mit, der 26-Jährige habe am Freitagmittag die sechs Menschen mit einer halbautomatischen Pistole getötet. Polizisten konnten den Verdächtigen kurze Zeit später vor dem Tatort – einem Gebäude mit einer Gaststätte – festnehmen. Hinweise auf weitere Tatbeteiligte gebe es nicht, heißt es. Die Opfer waren in einer familiären Angelegenheit zusammengekommen. Adrian S. hat einen wohl schon lange gehegten Plan in die Tat umgesetzt, so lässt sich der Ablauf später rekonstruieren. Einen Racheplan.

Friedhof Rot am See heute: Der ermordete Klaus S. war Fußballfan und als Gastwirt im Ort bekannt und beliebt. Freunde drücken am erst jüngst eingefassten Grab mit Erinnerungstafeln ihren Schmerz über den Verlust aus. © Michael Weber-Schwarz

Das Unbeschreibliche

Aalens Polizeipräsident Reiner Möller sagt bei einer Pressekonferenz am Tattag: „Wir gehen von einem Familiendrama aus.“ Bei den Erschossenen handele es sich um drei Männer im Alter von 36, 65 und 69 Jahren sowie um drei Frauen im Alter von 36, 56 und 62 Jahren. Außerdem seien zwei weitere Menschen verletzt worden, einer davon schwebte noch in Lebensgefahr. Überdies seien zwei Jugendliche im Alter von zwölf und 14 Jahren von dem Schützen mit seiner Pistole bedroht worden.

Über das Gröbste war ich beim Eintreffen am Tatort durch meine Kollegen bereits im Bilde. Was man aber genau – aus relativer, aber überschaubarer Entfernung – als Journalist zu sehen bekam, behält man lieber für sich. Hier das Noch-Erträgliche: Polizisten, die später einen Sichtschutz am Hinterhof aufstellen. Feuerwehrleute, die nach der Spurensicherung mit dem Löschschlauch Blut vom Gehweg wegspritzen. Das Wissen, dass sich im Gasthaus „Deutscher Kaiser“ etwas Ungeheuerliches, ja Unbeschreibliches abgespielt hat.

Die polizeilichen Mitteilungen geben dagegen nur eine „amtliche“ Sicht auf die Wirklichkeit wieder: Der junge Täter habe „eine Waffenbesitzkarte“ besessen. Der damals 26-jährige Deutsche hat in dem Haus gelebt, in dem er die Tat wohl verübt habe. Sein Motiv blieb zunächst unklar. Nach den Schüssen habe er selbst die Polizei angerufen, so die Beamten weiter, die laut eigener Angabe schnell „mit starken Kräften“ vor Ort waren. Kurz die Zahl von mir selbst überschlagen: Es werden wohl rund einhundert Beamte gewesen sein.

Irgendwann dann Rückzug zu meinem Auto, die Kollegen informieren. Die Layouts für die Wochenendausgabe laufen bereits. Per Handy ein paar „O-Töne“ und Eindrücke übermitteln. Die mittlerweile in Scharen angereisten Kollegen der Boulevardpresse mit ihren Videokameras und Teleobjektiven bleiben noch. Sie brauchen das Bild von den Särgen, die aus dem Haus getragen werden.

Die „Tat eines Gestörten“ Heute, drei Jahre später: Wir kennen die krude und kaum nachvollziehbare Geschichte des Täters Adrian S. in allen Schattierungen: Sachlich seriös in vielen Zeitungen, aber auch die aus „Bild“ & Co.: „Verurteilt nach Bluttat: 15 Jahre Haft für Sechsfach-Killer Adrian S.“

Das Gericht sah Adrian S. als vermindert schuldfähig an. Eine solche Tat sei nur zu erklären als die „Tat eines psychisch schwer gestörten Täters, der teils besessen gewesen ist“, so Richter Gerhard Ilg bei der Urteilsbegründung. 15 Jahre ohne frühe und auch spätere Hintertürchen: „Der Angeklagte wird so lange in der Psychiatrie bleiben müssen, wie er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt“, hält der Richter fest.

Der Angeklagte habe sich ab dem ersten Schuss in einem „Zustand der Raserei“ befunden und sei nicht mehr in der Lage gewesen, einen klaren Gedanken zu fassen. Richter Ilg sprach von einem „unbedingten Vernichtungswillen“.

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Eine Hinrichtung

Warum? Der junge Mann hatte die Tat zum Prozessauftakt im Sommer 2020 gestanden und „Misshandlungen“ seiner Mutter als Motiv angegeben. Sie habe ihn missbraucht, vergiftet. Beweise gab es dafür allerdings nicht. Ein Psychiater hatte beim Täter Wahnvorstellungen und eine krankhafte seelische Störung diagnostiziert. Seine Mutter habe ihm Hormone ins Essen gemischt. Aus Angst habe er sich in seinem Zimmer nachts verbarrikadiert.

Seine Mutter ist am Tattag eines der ersten Opfer: Sie überlebt aber den ersten Schuss des Mörders, versucht sich noch kriechend in Sicherheit zu bringen. Doch sie hat keine Chance: Ihr eigener Sohn richtet sie wenig später endgültig hin.

Für den damaligen Bürgermeister Siegfried Gröner ist die Tat unbegreiflich: Er spricht von Ohnmacht, Bestürzung, Trauer und Wut, aber eben auch von einer großen gegenseitigen Hilfsbereitschaft in seiner Stadt. „Wie dunkel muss es im Innern eines jungen Menschen aussehen, der kaltblütig sechs Menschen aus dem Leben reißt, einfach so“, fragt sich Gröner. „Die Uhren laufen weiter. Doch alles ist anders.“

Die Trauerfeier, wenige Tage nach der Tat: „Was Ihnen abverlangt wurde in den vergangenen Tagen, übersteigt die Grenze des Tragbaren“, sagt der evangelische Dekan Siegfried Jahn zu Angehörigen. „Wir wollen mit dieser Trauerfeier nichts erklären.“ Und das bleibt bis heute so: Es geht wohl mehr darum, die Ratlosigkeit miteinander zu teilen. Mehr als 1000 Menschen kamen damals zum Trauergottesdienst.

Noch immer „fassungslos“

Ratlos bin auch ich bis heute. Ich blicke von der Aussegnungshalle auf dem Friedhof von Rot am See hinunter: Eine ordentliche Anlage, die sich den Hang hinab zieht. Korrekt abgemessene Grabfelder, dazwischen Platten, schmale Gehwege zwischen den Gräbern. Der Begräbnisplatz des vom eigenen Sohn ermordeten Gastwirts Klaus S., er hat erst vor wenigen Tagen seine steinerne Umfassung und einen Grabstein bekommen. Steht man davor, kann man das Dach des Gasthofs sehen. Überhaupt ist in Rot am See mit seinen gut 5000 Einwohnern alles nur Steinwürfe voneinander entfernt.

Ich spreche ein paar Menschen auf dem Friedhof an. Es ist erstaunlich, wie offen sie antworten. Keiner sagt – wie oft wenn Journalisten Privatpersonen befragen – dass man das besser „nicht schreiben“ solle. „Das alles macht mich bis heute fassungslos“, sagt einer meiner Gesprächspartner. Trotz aller Gerichtsberichte weiß man bis heute nicht wirklich, warum so viele Menschen sterben mussten: 30 Schüsse hatte Adrian S. aus nächster Nähe auf seine Familie abgefeuert. Das bedeutet bei einem Magazin mit einem Dutzend Patronen: zweimal nachladen.

Der Wahn des Täters, die Folgen: Er lässt sich nicht erklären. Ausgerechnet in einem ländlichen Idyll wie Rot am See wurden sechs Menschen getötet – und vielen Einwohnern jäh die Seelenruhe genommen. Tod und Schrecken haben sich ausgebreitet. Nicht von einem fernen Feind ausgehend, sondern von innen her. Von einem Schläfer, der seine Terrorakte im Schützenverein trainiert hat. Er sei ein zurückgezogener Sonderling gewesen, heißt es. Dass sich der Sportschütze als Todesschütze entpuppen würde – keiner hat das geahnt.

Der „Deutsche Kaiser“ liegt am Bahnhof. Wer vom Zug kommt, der muss vorbei gehen. Auf den ersten Blick ein schönes und altehrwürdiges Gebäude mit Sandsteinfassade.

Kegelbahn „heute geöffnet“

Im Schaukasten hängen noch die Preise aus: 2,30 Euro für ein Pils, ein belegtes Brot für 1,70. Daneben in einer Nische ausgedruckte verblichene Bilder der Getöteten und ein paar Grabkerzen.

Es ist bewölkt und windig. Doch hin und wieder kommt die Sonne für ein paar Sekunden durch. Im Hinterhof, wo vor drei Jahren mehrere Opfer in ihrem Blut lagen, da wuchert grün das Unkraut aus den Knochenstein-Ritzen. In einem zweiten Schaukasten ein Hinweis auf die „Vollautomatische Kegelbahn“. Sie ist „heute ab 17.30 Uhr geöffnet“. Ein Heute, das für die Getöteten an einem Januarmittag endete. Die Zeit scheint am „Deutschen Kaiser“ seither still zu stehen.

Redaktion Im Einsatz für die Lokalausgabe Bad Mergentheim

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