Pfitzingen/Weikersheim
Sommer 2021: Es ist einer dieser Zufälle, die es eigentlich nicht gibt – die FN-Redaktion versucht für einen Beitrag über Kirchenkunst das Geheimnis des großen Chorbilds der kleinen Kirche im Niederstettener Ortsteil zu lüften. Dass es sich hier um ein ganz besonderes Bildnis mit Bezug zur biblischen Apokalypse handelt, ist offensichtlich. Doch die schriftlichen Informationen in Pfitzingen sind dürftig.
Durch weitere Recherchen kann die Redaktion den Schriftsteller und Publizisten Oliver Kohler in Mainz ausfindig machen. Er ist der Sohn des Künstlers. Über ein autobiografisches Buch Oliver Kohlers – und den Kontakt zu der Mössinger Kunsthistorikerin Dr. Christa Birkenmaier, die just Pfitzingen besuchte – wird klar, dass die Ahnung, die den Betrachter des Pfitzinger Werks befällt, nicht trügt. Das Bild spricht: Von Kohlers Erleben und seinem lebenslangen Versuch über religiöse Malerei auch ein furchtbares eigenes Trauma zu verarbeiten.
Mysteriöse Flammen-Engel
Was kann man im Pfitzinger Chorwandbild sehen? Monumental in der Wirkung, ist die Gestaltung in Grunde schlicht: Eine übergroße Christusgestalt sitzt auf einem breiten Hocker. Die Weltenkugel erscheint gleichsam als winziger Fußschemel. In seiner Ypsilonform mündet das Gemälde für die Gemeinde letztlich übers Kruzifix auf dem realen Altar. Doch es gibt noch mehr zu sehen: Wie beim Möbiusband, wo die Innen- zugleich auch die Außenseite ist, erscheinen an Stadttoren Seraphen mit Flammenschwertern. Diese mysteriösen Engel gehören sozusagen zum innersten Zirkel des Göttlichen und rufen fortwährend ein „Heilig, heilig, heilig!“ aus. Sind sie potenzielle Angreifer oder Verteidiger des Allerheiligsten? Ihr Name bedeutet „die Brennenden“ – und Kohler hat ihnen, erst auf den zweiten Blick erkennbar, ein Lamm mit Kreuz beigegeben. Das steht in der Ikonographie für den Sieg über den Tod – und das ist auch das Generalthema des Bildes.
Zwei Buchstaben auf der Erdkugel verraten, auf welche Bibelstelle sich Wolf-Dieter Kohler bezieht: „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst“, so heißt es in der Offenbarung 21. Und, zu Anfang der Textstelle: „...ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen.“
Es ist also eine Darstellung, die sich – trotz verstörender Bilder will die Apokalypse trösten – auf das Ende der Zeiten bezieht. Oder, deutlich irdischer, auf das Ende von Bedrückung, Trauer und Trennung. Verfasst hat die „Offenbarungen“ wohl Johannes von Patmos – nicht der gleichnamige Apostel.
Wolf-Dieter Kohler starb 1985 – man kann ihn nicht mehr fragen, was er bei der Bild-Konzeption und beim Malen für sich persönlich im Sinn hatte. Er orientierte sich grundsätzlich zunächst an den architektonischen Voraussetzungen und den Vorstellungen der Auftraggeber.
Doch eine Antwort auf das im Bild durchscheinende Persönliche lässt sich durchaus in seiner Biografie finden. Wolf-Dieter Kohler war der Sohn von Walter Kohler (1903 – 1945), einem vor allem in Süddeutschland bekannter Kunst- und Glasmaler. Er war Mitbegründer der so genannten Stuttgarter Sezession. Für Weikersheim hat Walter Kohler zahlreiche Fenster der evangelischen Stadtkirche gestaltet.
Geistiges gefühlsmäßig erfassen
Am auffälligsten ist, neben den Rundfenstern im Chor, die Glasmalerei mit den vier Evangelistensymbolen über dem Hauptportal – es ist nur vom Kirchenraum aus in seiner farbigen Pracht zu sehen. Von der Idee her ein Bezug zu den vier plastischen Altarstützen der Kirche. Sie zeigen ebenfalls diese Symbolfiguren. Kohler junior – er dürfte später auch in Weikersheim mit Restaurierungsarbeiten am Werk seines Vaters beauftragt worden sein.
Das „Geistige gefühlsmäßig erfassen“ – für Wolf-Dieter Kohler nach eigener Aussage von Kindheit an eine Art Lebens-Leithema. Doch solch eine emotionale Offenheit hat immer zwei Seiten, das musste Kohler als 17-Jähriger erfahren. Er hatte zuvor erleben müssen, wie die Stuttgarter Wohnung von Bomben getroffen wurde. 1944 wurde er als Flakhelfer eingezogen. Ende Januar 1945 kam sein Vater von der Ostfront zu einem kurzen Lehrgang nach Stuttgart zurück. Walter wollte seinen Sohn in der Flakstellung besuchen – ein plötzlicher Angriff quasi vom Himmel herunter: Der Vater wird vor den Augen des Sohnes von einer Fliegerbombe getötet.
Ein Schulfreund Wolf-Dieters war Zeuge der grauenvollen Szene. Er berichtet später von dessen starker Sensibilität und Ausdrucksfähigkeit – und den „apokalyptischen Erfahrungen dieser Tage.“ Das Pfitzinger Wandbild entstand rund zwölf Jahre später. Hat Kohler auch diese Bibelstelle in „seine Apokalypse“ hineingelegt: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz ...“? In den Vordergrund gedrängt hat er sich nicht, doch der Künstler wusste, dass sein Leid das Leid einer ganzen Generation war.
Buchtipp: Christa Birkenmaier (Hg.): Wolf-Dieter Kohler. Leben und Werk. Gebunden, 240 Seiten, Michael Imhof Verlag, 29,95 Euro.
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