Niederstetten. Grandioses Theater der Extraklasse – mit Schauspielern und Puppen: Das gab’s bei den Musik- und Kleinkunsttagen in Niederstetten. Für Begeisterungsstürme sorgte das Theater „Con Cuore“ mit Stücken für Kinder und Erwachsene.
Die hohe Kunst des zeitgenössischen Puppenspiels: Das Theater „Con Cuore“ (mit Wurzlen in Hohenlohe) zeigte zum Auftakt der Musik- und Kleinkunsttage im „Kult“ Niederstetten, wie’s geht.
Bei einer Kindervorstellung am Nachmittag Gekicher und lautes Gelächter beim jungen Publikum im Alter ab vier Jahren: Frei nach dem Kinderbuch von Peter Brown „Herr Tiger wird wild“ ging es um Anpassung, Konventionen und Langeweile. Immer nur brav und anständigsein? Herr Tiger will eines schönen Tages frei sein und was erleben. Er beschließt, wild zu werden und sein Glück im Urwald zu suchen, gegen den Strom zu schwimmen und ganz er selbst zu sein. Doch: Nach liebenswerter Puller-Pause im Dschungel vermisst er seine Freunde und kehrt eines Tages wieder zurück nach Hause. Und siehe da: Dort hat sich das Leben verändert und Freund Nashorn und die Nachbarin Elefantin finden auch, dass es sich abseits der Angepasstheit auch viel entspannter leben lässt.
Minimales, aber enorm wandelbares Bühnenbild, bis ins Detail liebenswert gebaute Puppen, eine präzise abgestimmt Spielweise mit jeder Menge wunderbarer Ideen (wie eine „Zeitlupenaufnahme“ des springenden Tigers): Das macht einfach Spaß und ist aller Kinder wert. Soll heißen: Jungen Zuschauern nicht Klamauk vorzusetzen, sondern eine hochwertige Inszenierung, das ist wichtig und richtig. Qualität lernt man am besten von Anfang an, dann kann man sie auch als Erwachsener richtig genießen. Jedenfalls: Die richtige Investition in Sachen Kindertheater.
Abends dann der erweiterte Höhepunkt für Erwachsene mit der Eigenproduktion „Hear my Song“. Das „Kult“ ist als Varieté-Theater mit Tischen ausgestattet. Passend zur Inszenierung, die sich optisch am französischen Vaudeville orientiert; jenem Pariser Theatergenre mit Gesang und Instrumentalbegleitung, das Mitte des 19. Jahrhunderts den Höhepunkt seiner Beliebtheit erreicht hat.
Liebenswerte Charaktere
Mehrere wandelbare Spielorte auf der Bühne: ein alter Wohnwagen, ein Guckkastentheater mit Dachgalerie, eine Sitzbank in der Bühnenmitte, dahinter ein imaginärer Platz mit schummriger Straßenlaternenbeleuchtung. Dort spielt die Geschichte von Marc, der sich nach der Trennung von seiner Schauspielkollegin Vianne „wie ein Hund fühlt“. Und so spielt sich die Story aus dem Rückblick auch selbst: Der (Puppen-) Hund (Stefan Maatz) versucht sich etwa mit Vorsing-Terminen bei schmierigen, uninteressierten Produzenten, die Straßenkünstlerin Vianne (Virginia Maatz) schlüpft in die (Puppen-) Rollen als Katzen-Showgirl oder als Barbie-Assistentin eines drittklassigen französischen Bühnenmagiers.
Genau so fühlt es sich an
Alles läuft über Musik, zumeist Chansons oder bekannte Popsong-Cover. Dazu liebenswert poetische Szenen einer sich entwickelnden großen Liebe, dann Zerwürfnis und Trennung samt grotesken Mordphantasien, die kaum zu beschrieben sind. Vianne ersticht in einer traumartigen Sequenz ihren Geliebten, öffnet ihm den blutigen Brustkorb, reißt ihm das Herz heraus (und als Beziehungs-Chiffren eine Pizzaverpackung und eine Alkoholflasche). Am Ende taucht sie selbst in den Leichnam, lässt sich einverleiben und schließt den Brustkorb. Das mag sich verstörend anhören und würde mit menschlichen Darstellern wohl auch kaum umzusetzen sein.
Mit Puppen funktionieren die gespielten Metaphern. Die Zuschauer können sich über die relative Distanz gewissermaßen besser einfühlen. Das Melodrama-Bild ist genau so, wie es sich „in echt“ anfühlt. Herz rausgerissen eben – und doch noch irgendwie drin im anderen Menschen. Und Sex, Drogen, Rock ’n’ Roll, das alles gibt’s natürlich auch (es ist ein Erwachsenenstück).
Die Mischung aus menschlichen Darstellern und Puppen verschiedenster Größe und Machart hat man so noch nie gesehen: Große und kleine Ideen, skurrile liebenswerte Charaktere, schreckliche Gestalten wie eine Tänzerin, die sich am Schuss als zubeißender Vampir entpuppt.
Es sollte „kleine Stücke mit eingelegten Couplets zu bekannten Melodien“ sein, das hatte Napoleon Bonaparte selbst bereits im Jahr 1807 per Gesetz bestimmt. Man nannte die Vaudeville-Vorbilder damals Théâtres secondaires – „zweitrangige Theater“ also, um sie von der „Hochkultur“ abzusetzen.
Heute liegt genau darin der ungeheurere, zeitlose Charme: Es ist letztlich auch beim Theater „Con Cuore“ ein Volkstheater draus geworden, das von den Problemen und Sehnsüchten der normalen Menschen erzählt und nicht vom Jammern der Mächtigen auf hohem Niveau. Da darf, wie einst bei der längst vergangenen süditalienischen Figuren-Theater-Tradition der „Cantastorie“, das Blut fließen und krachend das Herz brechen, denn es eines meint doch immer auch das andere.
Fazit: Ganz großes Theater auf kleiner Bühne in Niederstetten, das förmlich nach mehr schreit. Möge eine Neuauflage der Kleinkunsttage „con Cuore“ gelingen.
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