Lauda-Königshofen. Mit offenen Augen die Natur beobachten, ist für Roman Türk schon immer ein wichtiger Grundsatz gewesen. Wenn der 76-Jährige über den alten Friedhof an der Marienkapelle in Lauda spaziert, gilt sein Interesse nicht nur den Verstorbenen, die dort ihre letzte Ruhe gefunden haben. Der Professor an der Universität Salzburg, Lehrstuhl für Ökologie und Evolution, sucht nach ganz besonderen Lebewesen: Flechten. Auf den Bäumen und den Grabsteinen wird er schnell fündig. „Bewaffnet“ ist er dabei immer mit einer Lupe und einem spitzen Taschenmesser, um die Lichen, so der lateinische Namen, in Augenschein zu nehmen.
Was für viele Menschen eher störend wirkt, übt auf den seit einigen Jahren emeritierten Professor einen ganz besonderen Reiz aus. „Wenn man einmal mit Flechten in Berührung kommt, lassen sie einen nicht mehr los“, sagt der 76-Jährige und untersucht einen Tulpenbaum, der sich in dem kleinen Friedhofspark befindet. Unzählige Parmelia-Arten tummeln sich auf der Rinde, die Türk sofort vor die Linse nimmt. Mindestens zehn verschiedene Arten finden sich auch auf dem Lederhülsenbaum, darunter kleine strauchförmige Gebilde und Eichenmoos (Evernia prunastri). Die grüngelb schimmernde Baumflechte Wand-Gelbflechte (Xanthoria parietina) fühlt sich auch auf einem Mörtel eines Grabmals sehr wohl.
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Vielfalt der Organismen
Türks Begeisterung für Flechten, die mehrere Jahre ohne Wasser auskommen können, ist ansteckend. Vor allem den Auswirkungen von Schadstoffeinträgen in der Luft auf die Pilze galt sein Augenmerk von Beginn an. Geforscht hat er im Flachland und im hochalpinen Raum. „Die Vielfalt der Organismen ist so groß, dass man nur staunen kann, wo sie überall wachsen. Sie brauchen eine stabile Unterlage und Ruhe, um sich entwickeln zu können“. Auf Bäumen, in Sträuchern oder auf einfachen Steinen finden sie ausreichend Substrat. Gerade mal zwei Millimeter im Jahr wachsen die Flechten im Taubertal. „Und auf den Grabsteinen trotzen sie dem Reinlichkeitssinn der Menschen“, fügt der Professor augenzwinkernd an. „Sie kommen immer wieder.“ Für ihn sind die Flechten keine Störenfriede der Sauberkeit, sondern Pioniere, die zusammen mit Algen und Moosen das Leben erst ermöglichen. Denn: „Flechten sind Pilze, die es gelernt haben, mit Algen eine Symbiose für den Fortbestand eingehen.“ Bis zu sieben Algenarten könnten dort eine Heimat finden.
Ideales Lokalklima
Das Lokalklima an der Kapelle ist ideal für Flechten. Der Lichenologe erzählt von Baumflechten, die sich vor allem aufgrund der zugenommenen überregionalen Verunreinigung der Luft vermehrt angesiedelt haben. Auf der Robinie, deren Borke die Fremdstoffe gut akkumuliert, haben sich Flechten angesiedelt, die Stickstoffverbindungen lieben. Die Gelbe Wandschüsselflechte oder auch Schwielenflechten kommen auf diesem Substrat zurecht. Für den Laien sind die unterschiedlichen Organismen höchstens in der Farbe unterscheidbar, beim Flechtenkundler lösen sie große Faszination aus. Der Blick in die Lupe eröffnet „eine unwahrscheinlich grandiose Vielfalt“. Um die Flechten betrachten zu können, müsse man ihnen ganz nahe kommen, wie wenn man einen Menschen küssen wolle, sagt Türk mit dem Schalk im Nacken. Und dabei brauche es oft ganzen Körpereinsatz, etwa wenn es um Flechten auf dem Boden oder auf Steinen geht.
Seit mehr als einem Jahrzehnt hat Türk die Flechten auf der Gemarkung der zwölf Stadtteile von Lauda-Königshofen erforscht und dokumentiert. 206 unterschiedliche Arten hat er gefunden. Auf 96 Quadratkilometern mit einer wenig differenzierten Höhenlage sei dies eine beachtliche Zahl. Darunter waren auch seltene Exemplare, wie Evernia divaricata (Sparrige Evernie) auf Schlehenhecken. „Diese Art haben wir nur im Taubertal und in Karlstadt am Main gefunden“, so der Lichenologe. Denn normalerweise kommt die gefährdete Art Evernia divaricata nur in hochmontanen Wäldern zwischen 900 und 2000 Metern vor. In alten Eichenbeständen der Stadt habe er zudem Exemplare von Anaptychia ciliaris (Gefranste Wimpernflechte), Calicium glaucellum (Schwarze Kelchflechte), Pertusaria flavida (Gelbliche Porenflechte) gefunden, die es ausschließlich dort gibt. Deshalb ist es aus seiner Sicht wichtig, dass auch in den Wäldern alte Bäume und Tothölzer stehen bleiben, um den Flechten die Möglichkeit des Wachsens zu geben. Großes Lob gibt es vom Experten für das Projekt Trockenrasen im Kreis, das nicht für die Diversität der Flechten sorgt. Dass aber der Kiliansbrunnen vor der Stadtkirche gereinigt und damit viele Flechten vernichtet wurden, bedauert er sehr.
Mit Lauda-Königshofen verbindet Roman Türk auch ein Stück Heimat. Seine Mutter Franziska Veith wurde 1915 in Lauda geboren, ihre Eltern sind auf dem Friedhof um die Marienkapelle begraben. In Bad Mergentheim hatten sich Türks Eltern kennengelernt und sind nach Österreich gezogen, wo der Vater herkam. Erst 1961 kam die Mutter mit dem damals 16-Jährigen nach Lauda, um das Grab der Vorfahren zu suchen.
Türk selbst zog es 1971 nach Würzburg. Nach seinem Biologie-Studium in Wien und einer Doktorarbeit über den „Einfluss von klimatischen Faktoren auf die Saugspannung höherer Pflanzen“ begann er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Würzburger Institut für Ökophysiologie bei Professor Otto L. Lange. „Mein Glück war, dass ich dort über Flechten und über die Wirkung von Schwefeldioxid als Hauptschadgas auf diese Pilze arbeiten durfte.“ Seitdem kümmert er sich um die Erforschung dieser symbiotischen Lebensgemeinschaften. Zusammen mit Volkmar Wirth arbeitete er in den 1970er Jahren in der Mainmetropole als Projektassistent in der Forschungsgruppe von Professor Lange. „Gewohnt haben wir in Lauda, weil auch meine Frau von hier stammt“, fügt Türk lächelnd an. 1975 zog es ihn nach Salzburg, wo er sich habilitierte.
Bald grüne Antarktis?
Rund um den Erdball hat Roman Türk geforscht, war mehrere Male in der Arktis Kanadas, in Patagonien, in Tasmanien oder Neuseeland. „Überall wo es spannend ist“, scherzt der Experte. Bei seiner neunten Forschungsreise in die Antarktis musste er feststellen, dass die weiße Wüste bald grün werden könnte. Auch am Südpol gibt es diese Überlebenskünstler – und durch den Klimawandel nimmt ihre Vermehrung zu. Als Vorsitzender des Naturschutzbundes Österreich ist Türk oft auch Mahner und Berater. Im Wienerwald gebe es aufgrund der Luftverschmutzung mittlerweile riesige Gebiete, in denen keine Flechten mehr vorkommen. „Da kommen einem die Tränen.“ Dass sein Rat und seine Dokumentationen etwas bewirken können, macht der Berater des Vereins Deutscher Ingenieure (Kommission Reinhaltung der Luft) am Beispiel von Salzburg deutlich. Dort wurden Maßnahmen zum Schutz der Luft ergriffen.
„Flechten sind tolle Organismen, vor denen wir mehr Ehrfurcht haben sollten“, findet der Experte. Schließlich sei das älteste Exemplar in der Antarktis rund 13 000 Jahre alt. Professor Türk wird weiter forschen und auch in Lauda-Königshofen nach besonderen Exemplaren suchen.
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