Markelsheim. Die zehnjährige Florence hat das Angelman-Syndrom. Ein Besuch bei Familie Eich in Markelsheim.
Sabine Eich öffnet strahlend die Tür. In ihrem Zuhause in Markelsheim ist an diesem nasskalten Februarnachmittag wie fast immer „Leben in der Bude“. Tochter Florence ist gerade aus der Schule gekommen und zeigt der Reporterin gleich einmal ihre neuen Zahnlücken – am Vormittag waren zwei Wackelzähne auf einmal herausgefallen. Ihre jüngere Schwester Scarlett hat eine Freundin zu Besuch. Sabine Eichs Mann ist gerade beim Sport. Auf den ersten Blick eine ganz „normale“ Familie.
Die Behinderung ist nicht sofort offensichtlich
Sabine Eich hat lange mit ihrem Mann darüber gesprochen, ob sie „damit“ an die Öffentlichkeit gehen wollen – oder sollen. Florence hat nämlich eine Genveränderung am 15. Chromosom, das so genannte Angelman-Syndrom. Diese Krankheit, die mit einer Häufigkeit oder besser gesagt Seltenheit von 1:15 000 auftritt, ist ziemlich unbekannt. Viele Menschen haben noch nie davon gehört. Außerdem ist die Behinderung nicht sofort offensichtlich.
Wir nehmen am Esstisch Platz, darauf steht Florences Talker, ein Sprachcomputer, der sich über Bildsymbole steuern lässt. Florence sitzt zunächst mit am Tisch und hätte gerne etwas zu essen. „Keks“, sagt sie. Sie kann etwa 200 Worte sprechen, das ist sehr viel für ein Angelman-Kind. Die meisten sprechen nur einzelne Laute oder bis zu zehn Worte.
Sabine Eich berichtet von einem Supermarkt-Besuch mit Florence. „In der Obstabteilung ist es immer besonders ,gefährlich‘. Sie isst für ihr Leben gern und beißt dann schon mal schnell in eine Birne oder nascht von Trauben. Das sah einmal ein älterer Mann, der mich daraufhin anschnauzte und fragte, ob ich meinem Kind nicht beigebracht habe, dass man das nicht tun darf. Ich erklärte ihm, dass meine Tochter schwerbehindert ist und er gerne auf sie aufpassen kann, während ich in Ruhe einkaufen gehe.“
Familie Eich will offen über die Krankheit sprechen
Nicht zuletzt auch aufgrund solcher Vorkommnisse entschlossen sich die Eichs nun zum Welttag dieser Erkrankung, offen über Thema „Angelman-Syndrom“ und ihre Tochter Florence zu sprechen.
Im Sommer 2013 kam Florence nach einer unauffälligen Schwangerschaft auf die Welt. Die ersten Untersuchungen waren ohne Befund. Doch die Kleine schlief schlecht, hielt ihre Eltern Tag und Nacht auf Trab. Sabine Eich erinnert sich noch sehr gut: „In den ersten sieben Monaten hat sie dreimal zwei Stunden am Stück geschlafen, sonst immer nur mal eine halbe Stunde oder gar nur zehn Minuten. Sie war oft unzufrieden, hat geschrien. Wir versuchten alles: Kinderwagen, Tragetuch, Auto. Dann ließen wir sie bei uns im Bett schlafen. Doch sie freute sich so sehr darüber, dass sie erst recht nicht schlief. Nichts half. Entweder schrie sie oder wollte an irgendetwas saugen.“ Sabine Eich sagt: „Ich bin relativ hart im Nehmen, dachte mir, der Arzt kann uns da auch nicht helfen. Also wurstelten wir uns so durch. Aber es war wahnsinnig anstrengend. Das wünsche ich niemandem. Schlafentzug gilt ja nicht umsonst als Foltermethode. Und dann sagten Leute, die es natürlich nicht besser wissen konnten, dass das erste Jahr zuhause mit dem Kind so wunderschön sei. In Wirklichkeit war es furchtbar. Ich wäre viel lieber arbeiten gegangen.“
Mit neun Monaten stoppte Florences Entwicklung
Sabine Eich erzählt: „Als Florence neun Monate alt war, stoppte ihre Entwicklung. „Unsere Physiotherapeutin, die auf Babys und Kinder spezialisiert ist, stellte dann als erste fest, dass etwas nicht stimmt. Durch die Internet-Recherche sind wir dann schnell auf das Angelman-Syndrom gekommen. Bei der ersten humangenetischen Vorstellung erschien sie den Medizinern jedoch zu ,fit’ für das Syndrom. Untersuchen ließen wir sie nicht – wir wollten uns einfach noch einen Restfunken Hoffnung bewahren. Ganz bewusst entschieden wir uns dann auch für ein zweites Kind.“ Sabine Eich ließ während ihrer Schwangerschaft nur die gängigen Checks machen: „Wir hatten einfach Vertrauen. Wenn das Kind ebenfalls einen Gendefekt gehabt hätte, dann wäre das eben so gewesen.“ Doch Scarlett, heute sieben, kam kerngesund auf die Welt.
Florence ist inzwischen wieder auf der Suche nach etwas Essbarem. Sabine Eich gibt ihr einen kleingeschnittenen Apfel.
Das Bedürfnis, alle möglichen Dinge in den Mund zu nehmen, Rastlosigkeit und eine schwere Entwicklungsverzögerung sind typische Anzeichen der Erkrankung. Als Florence vier Jahre alt war, wollten die Eichs, die beide als Physiotherapeuten tätig sind, es Schwarz auf Weiß wissen. Es stellte sich heraus, dass das Mädchen die leichte Form dieses Gendefekts hat. „Nun hatten wir die Gewissheit, dass Florence ein Leben lang 24/7 auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sein wird.“
Alle Ratschläge halfen nichts
Die ständige Übermüdung trieb die Eltern dann nach einem weiteren Jahr erneut zum Arzt. „Wir hatten schon alle homöopathischen Mittel ausprobiert, sämtliche Ratschläge aus dem Angelman-Selbsthilfeverein befolgt, aber nichts funktionierte, im Gegenteil. Florence hatte weiterhin mehrere, bis zu drei Stunden andauernde Wachphasen pro Nacht. Also recherchierten wir selbst und fanden ein Mittel. Ich schrieb den Namen auf einen Zettel und legte ihn dem Arzt vor. Er hatte zuvor immer an die Schlafhygiene appelliert. Ich hätte ein ganzes Buch darüber schreiben können.“ Mit diesem Medikament, das er dann tatsächlich verschrieb, wacht Florence seitdem in der Regel nur noch einmal nachts auf. Zum wieder Einschlafen muss ein Elternteil bei ihr sein. „Das funktioniert gut, wir haben ihr ein großes Bett gekauft“, sagt Sabine Eich und lacht.
Im Gespräch über Florence und das Leben mit ihr lächelt Sabine Eich sehr viel. „Ich habe einfach eine positive Einstellung dazu“, erklärt sie. „Durch sie lernen wir Dinge zu schätzen, die für andere Eltern selbstverständlich sind. Seit einer Woche kann sie zum Beispiel den Daumen heben und ,gut‘ sagen. Zuvor schaffte sie das nur mit dem Zeigefinger. Ich könnte heulen, so sehr freue ich mich darüber, dass sie dazu jetzt mit zehn Jahren fähig ist. Mit drei konnte sie das erste Mal mit dem Löffel essen. Wenn Scarlett Besuch von ihren Freundinnen hat, sehe ich, wie einfach es andererseits auch sein kann. Die kommen ohne mich klar.“
Tag-und-Nacht-Betreuung nötig
Sie erzählt, dass sie in Markelsheim nicht einmal kurz alleine zum nahe gelegenen Bäcker gehen kann: „Sie hat kein Gefahrenbewusstsein. Entweder liefe sie mir dann hinterher oder würde zuhause irgendwas anstellen, zum Beispiel schneidet sie gern mit der Schere. Man muss Tag und Nacht bei ihr sein. Doch“, sagt Sabine Eich, „man wächst daran. Du hast nun eben dieses behinderte Kind, das komplett auf dich angewiesen ist.“
Die siebenjährige Scarlett ist wortwörtlich in die Situation hineingewachsen. „Mit drei Jahren konnte sie schon viel mehr als ihre große Schwester, die in diesem Alter auch noch fast gar nicht sprechen konnte. Wir reden viel mit ihr und erklären ihr, warum Florence viel mehr Hilfe braucht als sie. Sie ist anders“, sagen wir ihr. Ich wähle absichtlich nicht das Wort ,besonders’, denn besonders ist jeder Mensch. Ich nahm recht schnell die Bezeichnung ,behindert’ in den Mund. Aber es war schon noch mal ein Schritt, das auch auszusprechen, zu sagen, deine Schwester ist behindert. Da kommen dann so viele Fragen. Wie oft haben wir schon über Florences Behinderung gesprochen – manchmal fließen dann auch Tränen.“
Die kleine Schwester ist die große Schwester
Es gebe aber auch Phasen, in denen sich Scarlett benachteiligt fühlt: „Ihr wird mit zunehmendem Alter immer mehr Selbständigkeit abverlangt, während wir Florence bei allem helfen müssen – ob beim Anziehen, Händewaschen oder Haarekämmen. Diese einfachen Dinge stellen für Florence oft schon eine große Herausforderung dar, denn wegen ihrer ausgeprägten Wahrnehmungsstörungen empfindet sie das als Stress und zeigt oft Abwehrverhalten. Doch Scarlett liebt ihre Schwester und hilft ihr gern. Wir hätten uns keine bessere Schwester für Florence vorstellen können.“
Ob sie stärker geworden ist durch Florence? Sabine Eich, die aus Eubigheim stammt, sagt: „Es bleibt einem ja nichts anderes übrig. Jeder denkt, man bekommt einfach so geschwind ein Kind, alles läuft locker, und das Leben geht weiter. Niemand sucht sich diese Situation aus.“
Florence besucht die Andreas-Fröhlich-Schule in Krautheim. Dort werde sie optimal gefördert und erlebe eine tolle Gemeinschaft. Der Transport funktioniere wunderbar, sie wird an der Haustüre abgeholt und auch wieder nach Hause gebracht. Unterstützung bekommen sie auch von den beiden Großmüttern. Die Eichs schätzen außerdem die Betreuungsangebote der Lebenshilfe Main-Tauber-Kreis, wo Sabine Eich seit kurzem Beisitzerin im Vorstand ist. Die Betreuer und anderen Kinder mag Florence sehr.
Etwas zu essen und starke Nerven
An der Wand hängt ein bunter Kalender, daneben eine Pinnwand mit vielen Kärtchen, die alle möglichen Aktivitäten zeigen. Wenn beispielsweise ein Ausflug oder eine Reise anstehen, zeigt Sabine Eich ihrer Tochter das betreffende Kärtchen und heftet es an den Kalender: „Dann ist sie immer ganz aufgeregt.“ Die Familie verreist auch mit beiden Kindern. „Das geht alles, solange es etwas zu essen gibt und man starke Nerven hat“, erzählt sie und lacht. Zweimal war Sabine Eich mit ihren Töchtern bereits auf einer Mutter-Kind-Kur in einer Spezialklinik im Südschwarzwald. „Das tut allen Beteiligten gut.“ Das Paar gönnt sich auch bewusst getrennte Auszeiten, so dass jeder Partner immer wieder einmal auch ohne die Kinder etwas unternehmen kann.
„Die Situation wird sich nie ändern. Florence wird immer Hilfe brauchen. Unsere Vorstellung ist, dass sie mal mit 20, 25 Jahren in eine Wohngruppe oder ein Heim zieht. Doch wir fragen uns, ob es dann überhaupt noch Menschen gibt, die in diesen Einrichtungen arbeiten. Der Fachkräftemangel bereitet uns Sorgen. Da macht man sich schon Gedanken, wo man sie guten Gewissens wohnen lassen kann und sie gut versorgt sieht.“
Die Situation schweißte uns zusammen"
Die Ehe mit ihrem Mann, einem Markelsheimer, habe nie unter der Belastung gelitten: „Die Situation mit Florence hat uns definitiv zusammengeschweißt. Entweder man wächst zusammen oder man packt es nicht und die Beziehung zerbricht“, hat sie von anderen Paaren erfahren, die sie bei den Regionaltreffen kennengelernt hat. „Durch Florence wissen wir, was wirklich wichtig ist im Leben. Es ist definitiv nicht die vermeintlich falsch ausgedrückte Zahnpastatube oder der offene Toilettendeckel“, sagt sie und lacht.
Florence, die inzwischen mit einem Puzzle gespielt, einen Keks und eine Kiwi verspeist sowie ihren Talker vorgeführt hat – das digitale Pendant zu ihren Symbolbildchen an der Wand – will jetzt endlich tanzen. Dazu sucht sie sich „Schifoahn“ von Wolfgang Ambros aus, eines ihrer vielen Lieblingslieder. Sie tanzt und strahlt.
Ihre Mutter erklärt: „Die Lieder müssen alle flott sein bei ihr, das gilt auch für die Musicals, die sie sich gerne anschaut. Mit Balladen kann man bei ihr nicht punkten.“
Sabine Eich schaut ihrer bestens gelaunten Tochter beim Tanzen zu und spricht aus, was sie gerade denkt: „Der Name Florence passt wirklich gut zu ihr, bedeutet er doch ,die Aufblühende‘. Mit ihrem Strahlen, einem typischen Zeichen ihrer Behinderung, kann sie die Herzen der Menschen öffnen.“
Sie blickt zu Florence und sagt: „Stimmt’s, Schnecke?“
Was ist das Angelman-Syndrom?
Das Angelman-Syndrom (AS) wird durch eine seltene genetische Veränderung auf dem 15. Chromosom verursacht. Diese Veränderung führt zu einer schweren Mehrfachbehinderung unterschiedlichster Ausprägung.
Der britische Kinderarzt Harry Angelman beschrieb 1965 das später nach ihm benannte Syndrom erstmals unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Wegen des auffälligen Bewegungsmusters und des häufigen Lachens der Kinder, die er damals betreute, nannte er es Happy-Puppet-Syndrom. Das AS tritt bei zirka 1:15 000 Geburten auf.
Auffallend sind das viele Lachen sowie geistige und motorische Entwicklungsstörungen, eine oft schwer einstellbare Epilepsie, keine oder wenig Lautsprache-Entwicklung sowie extreme Schlafstörungen und herausforderndes Verhalten.
Trotz aller Einschränkungen sind Betroffene sehr soziale Persönlichkeiten, die bei entsprechender Therapie und Förderung im eigenen Tempo Lernfortschritte erzielen.
Die Bankverbindung für Spenden: Angelman Verein, IBAN DE94180510003110205172, BIC: WELADED1EES.
Quelle: Angelman-Verein
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