Lebenshilfe Main-Tauber

Main-Tauber-Kreis: Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung stärken sich gegenseitig

Zweimal im Monat treffen sich Eltern von Kindern mit Behinderung im „Mittendrin“, der Begegnungsstätte der Lebenshilfe Main-Tauber-Kreis. Doch anders als bei den Zusammenkünften der Jungen Lebenshilfe sind die Kinder erwachsen.

Von 
Sabine Holroyd
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Tauberbischofsheim. Die Tische im „Mittendrin“ sind in hoffnungsvollem Grün geschmückt, draußen kündigt sich langsam der Frühling an. Die Eltern haben die FN eingeladen, bei diesem Treffen dabei zu sein.

Hanna Reinhardt leitet diese Zusammenkünfte. Sie hat selbst eine Tochter mit Behinderung, weiß also genau, was die Eltern bewegt, was sie belastet und sie sich wünschen. Sie ist eine Frau, die sich wehrt, die auch mal „ungemütlich“ werden kann.

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Veröffentlicht
Von
Elisabeth Englert
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Die Bürokratie gehört zu den Dingen, die den Angehörigen – und auch ihr selbst – den größten Kummer bereitet. Hanna Reinhardt sagt: „Wir müssen immer noch mehr Atteste einreichen und Sachen beantragen, die eigentlich selbstverständlich sind. Dabei weiß man, dass eine geistige Behinderung mit zunehmendem Alter nicht ,besser‘ wird – alles wird eher nur noch schlechter. Man darf dabei aber nie vergessen: Es geht um Menschen, von denen die meisten so auf die Welt gekommen sind. Sie können nichts dafür, dass sie so sind.“

Manchmal hilft nur Sarkasmus

Dieses Gefühl, immer wieder aufs Neue darzulegen zu haben, warum das Kind diese oder jene Leistung in Anspruch nehmen muss, in der Bringschuld zu sein, wenn es um ärztliche Atteste, jährliche Anträge für Kostenübernahmen oder die verpflichtenden halbjährlichen Pflegeberatungsbesuche geht, macht viele mürbe. Manchmal hilft ihnen nur noch Sarkasmus: „Bei so einem Besuch habe ich mal gesagt, dass mein Sohn demnächst läuft und dann auch gleich Abitur macht“, berichtet eine Mutter und sagt: „Da haben die mich groß angeschaut.“ Hanna Reinhardt geht davon aus, dass dem Personal in Ämtern oder Krankenkassen „der Kamm schwillt, wenn wir unseren Namen am Telefon nennen“. Anders ausgedrückt: Wenn die Mütter und Väter in ihrer Not ungewollt zu Nervensägen werden. Natürlich wissen alle, die im „Mittendrin“ am Kaffeetisch sitzen, dass die Leute in den Behörden nicht für diese überbordende Bürokratie verantwortlich sind und keine Schuld daran tragen, wenn sich teilweise hochbetagte Väter und Mütter ausgelaugt und angesichts des Amtsdeutsch der Formulare hilflos und ohnmächtig fühlen.

„Ich möchte nicht wissen, wer das Bundesteilhabegesetz ,erfunden’ hat. Uns Eltern ist damit überhaupt nicht geholfen“, meint Hanna Reinhardt. „Das Pflegepersonal in den Wohnheimen muss alles dokumentieren. Dabei bleibt so viel Zeit auf der Strecke, die eigentlich für die Behinderten aufgebracht werden könnte und müsste. Und diese Leute, die sich nicht wehren können, baden diesen chronischen Zeitmangel dann aus“, findet sie.

Die Eltern, die ihr Leben lang Vater und Mutter bleiben mussten, die aus Angst, ihrem Kind könnte es in einem Heim nicht gut gehen, lieber „selbst am Ball bleiben, solange es eben möglich ist“, wie es eine Mutter ausdrückt, werden älter, die Kräfte schwinden.

Hanna Reinhardt sagt: „Die Sorge um den Sohn oder die Tochter wird im Laufe der Jahre nicht weniger, und die psychische Belastung durch die wachsende Bürokratie ist immer da, auch wenn die Eltern schon hochbetagt sind.“

Zudem fehle das Vertrauen in die Heime, weil man wisse, dass es an Personal mangele. Eine Frau sagt unter Tränen: „Je älter man wird, desto schlimmer ist es. Man hat keine Kraft mehr, man denkt an sein eigenes Ende und fragt sich, wie es dann sein wird, wie es dem Sohn oder der Tochter dann ohne seinen Vater und seine Mutter gehen wird.“

Keine spezielle Trauerbegleitung

Zwei Frauen in der Gruppe haben vor kurzem ihre Ehemänner verloren. Sie stehen alleine da. Beide haben Söhne mit Behinderung, die sehr um ihre Väter trauern. Die eine sagt: „Ich habe rechtzeitig einen Antrag auf eine psychosomatische Reha-Maßnahme für ihn mit mir als Begleitung gestellt. Die Kur wurde auch gewährt, allerdings finden wir kein Haus, das auf eine Trauerbegleitung Behinderter ausgelegt ist.“ Die andere berichtet: „Ich wünschte mir, dass mein Sohn einen Trauerkurs besuchen kann, doch das wurde abgelehnt. Zum Glück haben wir gute Freunde in der Nachbarschaft, die ihn ablenken und auch mal auf einen Ausflug mitnehmen.“

Ganze Bücher könnten sie über ihre Erfahrungen und Erlebnisse schreiben, sagen die Eltern. Auch über die Pandemie, in der es ihnen vorkam, als habe man die Menschen mit Behinderung einfach vergessen. Über den Kampf für die Freistellung von der Arbeit in der Werkstätte für notwendige medizinische Behandlungen. Über die alle zwei Jahre fällige Überprüfung des Kindergeldanspruchs.

„Warum ist es nicht möglich, dass man nur dann einen Antrag stellen muss, wenn sich etwas am Zustand des Kindes ändert? Das würde es Eltern und Behörden viel leichter machen. Schließlich tritt bei 99 Prozent der Fälle keine positive Veränderung ein“, so Hanna Reinhardt.

Benjamin Czernin, der Vorsitzende der Lebenshilfe Main-Tauber-Kreis, und ihr Geschäftsführer Peter Büche haben bei diesem Treffen zugehört. Ihnen sind die Sorgen und Nöte der betroffenen Eltern sehr bewusst. Benjamin Czernin sagt: „Die Belastung hört nie auf. Mir kommt es so vor, als ob Gesetze wie das Teilhabegesetz von Leuten ausgearbeitet werden, die zwar meinen, damit etwas Gutes zu tun, aber offensichtlich wenig Berührungspunkte mit gehandicapten Menschen haben.“

Peter Büche versteht, wenn Eltern Behinderten- oder Senioren-Einrichtungen wegen des Personalnotstandes nicht vertrauen wollen: „Das sind für beide Seiten schwierige Situationen.“ Auch bedauert er das mangelnde Vertrauen der Bürokratie, wenn in jedem Jahr neue Überprüfungen anstehen und wieder neue Anträge gestellt und Gespräche geführt werden müssen.

Redaktion Im Einsatz für die Lokalausgabe Tauberbischofsheim

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