Bad Mergentheim. Wenige Tage vor seinem Tod verabschiedeten wir uns mit der gebräuchlichen, leicht dahingeworfenen Floskel „bis bald“. „Bis bald“, „bis nächste Woche“, „bis die Tage“ – das waren auch Vergewisserungen und Versprechungen. Nur ja nicht pathetisch werden oder gar feierlich. Solange wir uns so lapidar verabschiedeten, würde sich der Tod nicht an ihn heranwagen. Es gab ja noch eine Verabredung zum Weitersprechen zwischen uns – und noch eine und noch eine. Und nun ist das Undenkbare, das Unvorstellbare, das Skandalöse geschehen. Hartwig Behr ist in der Nacht zum Samstag seiner schweren Krankheit erlegen.
Nur für kurze Zeit war er am Deutschorden-Gymnasium mein Lehrer gewesen, die längste Zeit war er mir Freund, Ratgeber, Geistesverwandter. Wir führten lange und leise Gespräche, in denen stets das aufblitzte, was ich an ihm bewunderte: seine Besonnenheit und Genauigkeit, sein unermessliches geschichtliches Wissen und sein beeindruckendes Gedächtnis, sein literarisches und moralisches Urteilsvermögen, nicht zuletzt seine Großzügigkeit.
Er war das Gegenteil eines autoritären Lehrers, aber weil er eine selbstverständliche Autorität ausstrahlte, fiel es mir zu Anfang unserer Freundschaft Mitte der 90er Jahre schwer, sein Angebot zum Du anzunehmen – nach einer kleinen Weile wurde, da er den fast 30 Jahre Jüngeren ernst nahm und ins Vertrauen zog, diese Hürde überschritten. Die Hierarchie zwischen Lehrer und Schüler war aufgehoben, die Schulzeit damit endgültig Vergangenheit.
Seither waren wir immer in einem Dialog geblieben, ob ich in Heidelberg lebte, in Frankfurt oder Berlin – er war der Fixstern im Taubertal, der Orientierung gab. Wir sprachen über Privates und Politisches, machten ein Buch über bekannte Kurgäste in Bad Mergentheim, analysierten die Spiele des HSV und den Zustand des deutschen Fußballs, und ich profitierte nicht selten von seiner alle Raumkapazitäten sprengenden Bibliothek – die Bücher stapeln sich im Hause Behr auch auf Treppen, Sofas und sogar im Badezimmer.
Einige der in diesem Buchstabenkosmos enthaltenen Werke hat der leidenschaftliche Buchbinder Hartwig Behr selbst restauriert und verschönert. Wenn Hartwig mir von seinen Recherchen berichtete, von seinen Arbeiten, von seinen Erkenntnissen, war auch das ein Zwiegespräch – er probierte redend und nachfragend aus, wie er etwas und was er bald zu Papier bringen und veröffentlichen könnte.
Damit ist schon angedeutet, was Hartwig neben dem Talent zur Freundschaft noch besaß: eine akribische Sorgfalt bei der Erforschung bestimmter historischer Ereignisse in der hiesigen Region, die, als er damit anfing, viele lieber unter dem Teppich belassen hätten, unter den man sie nach 1945 gekehrt hatte.
Hartwig Behr, geboren 1943 und aufgewachsen im schleswig-holsteinischen Uetersen, kam nach seinem Germanistik- und Geschichtsstudium in Hamburg und Tübingen 1971 als junger Lehrer nach Bad Mergentheim. Sein Äußeres rief sowohl bei Tugendwächtern als auch bei konservativen Platzhirschen gewisse Befürchtungen hervor: strubbelige Haare, imposanter Vollbart – so stellte man sich als katholischer CDU-Wähler den marxistischen Gottseibeiuns vor. Als linker, progressiver Pädagoge war er verschrien. Zumindest das mit der pädagogischen Fortschrittlichkeit stimmte.
Ansonsten vertrat er schlicht humanistische, wenn man so will: konservative Werte. Seine Schülerinnen und Schüler sah er nicht als lästiges Übel des Lehrberufs an, auch nicht als renitente Schutzbefohlene, denen man Wissen wie bittere Medizin einträufeln musste, sondern als mündige Menschen, die kritisches Denken, Mut zur eigenen Meinung und vielleicht sogar so etwas wie Freude am Lernen entwickeln sollten. Was für eine Zumutung! Mehrfach eckte er an, aber glücklicherweise steckte er nicht auf.
Zum Glück vor allem für die Schülerinnen und Schüler des DOG. Für die rief er einen Filmclub ins Leben. So erreichten die Provinz Filmklassiker und Programmkino-Werke, die sonst nicht zu sehen gewesen wären. Er setzte die Reihe mit Fritz Ehrler in dessen Mergentheimer Kino fort, was den Publikumskreis enorm erweiterte – fast 20 Jahre lang trug er so in vordigitalen Zeiten zur cineastischen Grundversorgung im Taubertal bei. Ungefähr zu jener Zeit, Ende der 1970er Jahre, begann der Historiker, sich auch mit der Geschichte jener Region zu beschäftigen, in die es ihn als Nordlicht verschlagen hatte.
Verwundert dürfte es ihn kaum haben, dass er zunächst auf viele geschlossene Türen, unerschlossene Archive und verschlossene Zeitgenossen traf. Das war überall so. Vor allem mit den zwölf Jahren der Nazi-Diktatur wollten die meisten Deutschen ja nicht weiter behelligt werden.
Spiegelbilder des Großen
„Bei der Suche nach Quellen sprach ich mit einem, der bei der Spruchkammer tätig gewesen war, und den befragte ich: Was gibt es denn noch so?“, erinnerte sich Hartwig vor vier Jahren in einem Interview. „Und dann zog er zwei Bilder heraus, und die zeigten von SA-Leuten misshandelte Juden. Zwei sind daran gestorben. Zwei Creglinger. Und diese Bilder haben mich zutiefst geprägt. Ich würde sagen, erst mal erschüttert und mich dann auf den Weg gebracht. Was war denn los, wenn in einem kleinen Ort von 1000 oder 2000 Einwohnern so etwas passiert? Das ist doch ein Beispiel dafür, was in ganz Deutschland passierte. Und so sehe ich eben auch die Arbeit im Kleinen als Spiegelbild des Großen.“
In seinem Geschichtsunterricht ging er fortan oft von lokalen Ereignissen aus, um uns – seinen Schülern – zu zeigen, was der Nationalsozialismus für jeden Einzelnen bedeutet hatte. Mit manchen Klassen nahm er an Geschichts-Wettbewerben des Bundespräsidenten teil. Er ließ sie Einblick nehmen in seine Funde und Entdeckungen. Und immer öfter publizierte er zu diesem Thema in der regionalen Presse oder auch in Fachzeitschriften; er hielt Vorträge, führte Nachfahren deportierter Jüdinnen und Juden durch die Stadt, schloss Freundschaften in die ganze Welt.
Im Laufe der Zeit wurde er zum ersten Ansprechpartner für alle Fragen, die das erloschene jüdische Leben im Taubertal betrafen. Die Ermordung der Creglinger Juden ließ ihn dabei nicht los, und zusammen mit dem Theologen Horst F. Rupp legte er 1999 eine erste größere Betrachtung dieses grausamen Verbrechens vor. Das Buch „Vom Leben und Sterben“ löste schmerzliche und heilsame Diskussionen aus.
Sein bedeutsamstes Werk erschien vor vier Jahren, mitten in der Corona-Zeit: „Zur Geschichte des Nationalsozialismus im Altkreis Mergentheim 1918 bis 1949“. „Es sollte ein Buch werden, in dem ein Bogen von dem Verlust der Gewissheiten des Kaiserreiches zu neuen Gewissheiten einer Demokratie geschlagen wird – nachdem die erste Demokratie nicht funktionierte, nachdem ein rassistisch imperialistisches Regime ganz Europa verheerte“, sagte Hartwig zu dieser brillant erzählten Untersuchung über die Voraussetzungen und den Schrecken der Nazi-Diktatur in der Region.
Diesen Bogen schlägt die Studie tatsächlich. Es geht ihr um die Konkretisierung des Unvorstellbaren. Um den Versuch des Verstehens nicht nur der Vergangenheit, sondern auch unserer Gegenwart. Sie ist damit zugleich eine Mahnung, alarmierende Zeichen in unserer Zeit nicht zu ignorieren und den heute wieder ungeniert und lautstark auftretenden Demokratiefeinden mit aller Vehemenz entgegenzutreten.
Über die aktuellen Gefahren für die Demokratie und das Erstarken des Rechtsextremismus haben wir uns in den letzten Wochen immer wieder unterhalten. Das Thema bewegte ihn trotz seiner Krankheit stark.
Es war nicht so, dass er sein eigenes Tun in Zweifel zog – aber er fragte sich, was Aufarbeitung, Forschung, das lebenslange Bemühen um Aufklärung dem Irrationalen und Rohen eigentlich entgegenzusetzen imstande sind.
Die Beantwortung der Frage liegt nun in den Händen jener, die seine Arbeit bewahren und fortsetzen müssen. Meine Überzeugung ist, dass sie nicht umsonst war. Wie auch alles andere, was Hartwig getan und in Gang gesetzt hat, nicht umsonst gewesen ist – ob seine Aufsätze zur Kurgeschichte oder sein Engagement für das im Äußeren Schlosshof errichtete Denkmal für die deportierten Mergentheimer Juden.
Der vielleicht wichtigste Aspekt seines Lebens ist da noch gar nicht berührt – die Liebe zu seiner Frau Christa und seinem Sohn Jan, die Nähe zu seiner ebenfalls vor kurzem verstorbenen Schwester, die über Jahrzehnte bewahrten Freundschaften zu Schulkameraden, Weggefährten oder auch einem Schriftsteller wie Ludwig Harig, den Hartwig zu einer Lesung nach Bad Mergentheim holte. Dass er in den letzten Jahren zu einer Instanz geworden und die Anfeindung der frühen Jahre längst in Anerkennung übergegangen war, das darf nicht unerwähnt bleiben. 2017 wurde ihm die Heimatmedaille des Landes Baden-Württemberg verliehen.
In den letzten Tagen habe ich viel über meinen Lehrer und Freund nachgedacht, und immer wieder kam mir ein Bild aus einem Gedicht von Dieter Leisegang in den Sinn: „Ein Mensch, der von ferne den Hut hob / Grüßte – und / Lächelnd vorbeiging.“ Auch so werden wir ihn in Erinnerung behalten. Bis irgendwann, lieber Hartwig.
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