Kolumne #mahlzeit

Warum früher alles besser war

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Die guten alten Zeiten waren, das wissen wir längst, in Wahrheit die schlechten alten Zeiten“, lese ich bei einem Apfelmus Alya, Bela und Caro vor. „Es herrschte mindestens so viel Krieg, mehr Ungerechtigkeit und viel mehr Rassismus, Sexismus, Frevel, Kabale und Liebe, Mord und Totschlag und überhaupt verbrecherische Machenschaft. Nur hat man halt nicht von allem erfahren, weil es die Zeitung (und das www) noch nicht gab. Nein: Die Zeiten waren gewiss noch nie so gut wie heute für uns Leute in der reichen Welt, die freilich nur reich ist, weil sie die arme Welt über Jahrhunderte ausgebeutet hat. Auch das war früher (noch) schlechter. Ausbeuten tun wir ja noch immer.

Zu den großen Errungenschaften des Menschen bei der Technisierung der Welt gehören elektrische Geräte. Sie treten dem Menschen immer mit der Verheißung entgegen, er gewinne durch ihre Nutzung das nach Nahrung und Kultur wertvollste Gut: Zeit! Zeit für Familie, Zeit für Kultur, Zeit für Erotik, Zeit für Gott, Zeit für …“

„… haaalt, so ein Stuss!“, ruft nun Caro hinein, „die Zeit, die wir gewinnen, zum Beispiel durch das Waschen mit einer Waschmaschine, nutzen wir doch heute vor allem durch Screen-Glotzing, das heißt durch Tätigkeiten, die uns mehr ent-sozialisieren, ent-kultivieren und ent-geistern und ent-sexualisieren als das Gegenteil.“ Caro macht immer eine riesige Pause zwischen „ent-“ und Verb. Das klingt aggressiv. Auch hatte ich das Wort Screen-Glotzing noch nie gehört. Ich habe es aber sofort verstanden.

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Nun ist meine Lesung beendet, denn Caro rezitiert lautstark aus ihrem Hirnkasten: „Die Technik ist eine Pest. Es wird alles immer komplizierter. Früher gab’s Geräte, die hatten zwei Knöpfe und einen Drehregler für die Lautstärke. Man konnte sich drauf konzentrieren, das zu tun, was man mit dem Gerät tun wollte. Heute? Neulich wollte ich mein Telefon lauter stellen (ja, man wird ja nicht jünger), da habe ich mich wie beim praktischen IQ-Test gefühlt. Ich hab’s gezählt: Auch nach 40 mal Knöpfedrücken konnte ich nicht finden, wie ich das Ding lauter kriege. Dafür weiß ich jetzt die IP-Adresse, dass die Grundsprache Deutsch ist, ich kenne die STUN-Adresse (was ist das überhaupt?), ich weiß, dass der DHCP-Modus auf „Client“ steht und nein: Dort, wo man sie vermutet, bei den Geräteeinstellungen, ist die Lautstärkeregelung auch nicht zu finden. Dort findet sich nur „Headset“, „LCD Beleuchtung“ und „LCD Beleuchtung (Ruhezustand)“. Dafür kenne ich jetzt – endlich! – den Bootcode, 133752, und die Version meines Gerätes, 13r1 sr 24. Die Funktion Volumen habe ich nicht gefunden. Ich habe das Gerät umgedreht. Nichts. Danach habe ich mein Büro nach einer versteckten Kamera abgesucht. Vielleicht sehe ich mich demnächst im Fernsehen – wenn ich dort den Knopf zum Einschalten finde …“

Die Frau ist außer sich. Ist das Schaum in ihren Mundwinkeln? Als kulturpessimistisch war sie mir noch nie aufgefallen. War früher vielleicht doch alles besser? Oder, um es frei nach Karl Valentin zu sagen: Früher war alles besser. Die Zukunft war früher auch besser.

Schreiben Sie mir: mahlzeit@mamo.de 

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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