Alya kam in mein Büro. Sie, die normalerweise eher gut drauf ist, war miesepetrig. So kannte ich sie nicht. „Alles ist schlecht“, sagte sie. Ich staunte. Alya zählte auf: Flüchtlinge an der polnischen Grenze, Rassismus, Klimakatastrophe, verdorbene Kirchen, unethisches Verhalten der Leute in den Medien, Europa, Inflation, miese Radwege, Gottes Müdigkeit – und zu all dem komme auch noch diese verdammte Pandemie, aus deren depressivem Zustand weder Philosophinnen noch Geistliche und noch weniger Politikerinnen einen Weg wiesen. Während ich ihr einen Kaffee anbot, begann Alya zu weinen und schluchzte mühsam ein „Ich bin so unglücklich!“ in mein Büro. Ihre Tränen machten dunkle Flecken auf ihre lilablassblaue Bluse.
Wir sind uns nicht so nah, dass ich sie einfach so in den Arm hätte nehmen und trösten können. Man muss da vorsichtig sein. Aber ich sagte: „Du hast das Recht, selbstbestimmt zu leben und glücklich zu sein. Also nimm dir das Glück!“ Sie blickte mich an, als seien mir gerade Ohren wie beim Halbvulkanier Spock aus „Star Trek“ gewachsen. Ich merkte, wie sie Hoffnung schöpfte. Ihr Blick hellte auf, die Tränendrüsen stellten ihre Arbeit ein, ihr scharfer Verstand übernahm die Kontrolle und ließ den Mund fragen: „Wie?“
Natürlich hatte ich diese Frage antizipiert und mein Gehirn parallel um eine Strategie gebeten. Ein paar Tage davor hatte ich einen Beitrag in einem philosophischen Magazin gelesen. Ich mach’ das manchmal. Es ging um Aristoteles, Descartes und Alain, der eigentlich der Philosoph Émile Chartier ist. Alle drei schrieben über das Glück. Eine Theorie zum Glück lautet: Du musst weniger wollen! Die andere: Nimm dein Schicksal in die Hand, ändere deine Sicht auf die Lebensbereiche, die du kontrollieren und ändern kannst – kurz: Sei aktiv, Mann (wobei Alya zweifelsfrei eine Frau ist).
Während ich Alya eine Tasse meines gefürchtet starken Kaffees brühte, referierte ich also, dass Alain in „Ein paar Worte über das Glück“ von 1925 die These vertrat, dass im Glück wesentlich mehr Wille stecke, als wir glauben, und dass der Weg zu wahrem Glück nicht über das Denken führe, sondern allein durch Handeln zu erreichen sei: „Alya, wer sich dieser Möglichkeit von Glück offen hingibt, kann eher wieder Freude am Leben finden als jemand, der die Dinge zu sehr … zerdenkt.“ Ja, ich sagte „zer-denkt“. Der Denker Alain, fuhr ich fort, „rät lakonisch: ,Das erste Mittel gegen die Übel des Denkens ist, Holz zu hacken.’“
Alya lachte laut auf. „Ich soll Holz hacken, bist du verrückt? Ich hab’ das noch nie gemacht. Ich weiß gar nicht, wie das geht!“ Ich könne ihr das zeigen, bot ich ihr nett an. Das größte Problem bei der Umsetzung von Alains philosophischer Anwendung, meinte ich mit erhobenem Zeigefinger und einem gewissen Schmunzeln, sei derzeit allerdings der massiv gestiegene Holzpreis. Alya prustete los. Ich glaube, manchmal ist das Reden übers Holzhacken auch schon ein Glücksbringer. Was macht eigentlich der Rest der Welt, wenn er glücklich werden will? Bestimmt kriege ich wieder Mails darüber …
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