Kolumne #mahlzeit

Die Macht der Bürokratie

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Meine Krankenkasse in Berlin ist ein Papiermonster. Regelmäßig wollen die Sachen von mir wissen. Mein Favorit ist die „Prüfung der Familienversicherung“. In vielen Spalten und Zeilen wollen sie mehrmals im Jahr etwa den Namen meines Ehepartners wissen (ich bin nicht schwul!). Ich weiß ja nicht, wie andere das handhaben, aber soweit ich weiß, kann man seinen Ehepartner nicht mehrmals im Jahr wechseln, und selbst wenn: Ich würde das nicht tun. Viel zu anstrengend. Immerhin gehen sie davon aus, dass ich meine Kinder nicht mehrmals im Jahr wechsle, denn ihre Namen stehen schon auf dem Formular, das, wenn es eintrudelt, laute: „Oh no!“-Rufe provoziert.

Ehrlich: Ich verstehe das. Die haben einfach keine Lust, Frauen und Kinder mitzuversichern, wenn sie nicht müssen. Das würde sie so viel Geld kosten, dass sie die Sachbearbeiter nicht mehr bezahlen könnten, die die „Prüfung der Familienversicherung“ aussenden. Bürokratie ist ein kafkaeskes, aber real existierendes Gespenst.

Wenn ich (wie jetzt zum gefühlt 500. Mal) die „Prüfung der Familienversicherung“ aus der Post fische, denke ich immer an Reinhard Meys Lied: „Schicken Sie mir / Einen Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars / Zur Bestätigung der Nichtigkeit des Durchschriftexemplars / Dessen Gültigkeitsvermerk von der Bezugsbehörde stammt / Zum Behuf der Vorlage beim zuständ’gen Erteilungsamt.“ Großartig. Besonders gern mag ich das Wort Behuf, was im Beamtendeutsch so viel bedeutet wie Zweck. Das Lied ist von 1977. In den letzten 44 Jahren hat sich nicht so viel verbessert.

Auf der Website meiner Krankenkasse sitzen eine schöne Frau, ein schöner Mann und ein schönes Kind in der berühmten Yoga-Om-Stellung selig auf’m Sofa. Also entweder haben die noch nie die „Prüfung der Familienversicherung“ erhalten, oder sie versuchen gerade runterzukommen, weil sie sich so sehr darüber aufgeregt haben. Ich glaube ohnehin, dass die Papiere im Müll landen, denn eigentlich wissen die in Berlin, dass meine Frau seit langem selbst versichert ist – bei ihnen!

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Die Büro- und Technokratisierung der Welt hat mit der Digitalisierung noch zugenommen. Alle wollen über alle immer und überall Bescheid wissen. Dass Bürokratie die Kreativität und überhaupt den Fortschritt hemmt, hat nicht nur Robert Menasse im Roman „Die Hauptstadt“ beschrieben. Die Brüssler Bürostuten und -hengste denken und schreiben unentwegt. Passieren tut – nix.

Heute sind Formulare Masken. Die Daten dort repräsentieren von uns geschaffene Vergangenheit und Gegenwart. Nicht Zukunft. Hätte Bach für jedes seiner 1080 Werke vorher eine Maske ausfüllen müssen, wäre er niemals zur „Kunst der Fuge“ gekommen, Da Vinci hätte nie seine „Mona Lisa“ gemalt. Und die Vorstellung, Beethoven hätte über einem Formular auf Erteilung der Erlaubnis zur Herstellung einer 9. Sinfonie gesessen, ist absurd. Klar: Wir sind alle nicht so genial wie die. Aber kreativ, das wollen wir doch sein. Ich suche jetzt mal das Antragsformular zur Erteilung eines Antrags zur Ausübung des freien Geistes und der Kreativität! Und Sie?

Schreiben Sie mir: mahlzeit@mamo.de 

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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