Kolumne #mahlzeit

Tod dem Sie, es lebe das Du - oder was?

Bela leidet unter dem Verlust von Gewissheiten und entdeckt dann doch noch etwas Gewisses: Dass das Sie verschwindet. Kolumnist Stefan M. Dettlinger versteht Bela, sieht aber auch einen letzten Ausweg für das Sie - nicht für Polizisten geeignet

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Polizisten dürfen diesen Text nicht lesen. Bitte! Also: Es gibt, das haben uns die vergangenen Jahre gelehrt, keine Gewissheiten mehr außer der einen: Gewiss ist, dass nichts gewiss ist. Ich finde das frustrierend. Und für Bela ist es das offenbar auch: Er dachte immer, erzählt er mir beim Essen, als glatt rasierter, Fred-Perry-tragender Porschefahrer mit Ray-Ban-Sonnenbrille sei er – noch vor Meister Yoda – der coolste Typ im Universum. Jetzt erlebt er, dass die schicken jungen Damen, die er mit all dem Luxuslametta beeindrucken wollte, längst auf zottelige Lastenradfahrer mit CO2-neutralem Vollbart und fair gehandeltem (zerknittertem) Leinenhemd stehen, die aussehen wie frisch aus der „Liberté toujours“-Werbung von Gauloises exportiert. Bela ist ratlos. „Das Fehlen von Gewissheiten stürzt mich in eine tiefe Sinnkrise, verstehst du“, sagt er und blickt mich dabei an wie ein nasser Dackel.

Die Rede, man wird’s bemerkt haben, ist hier keineswegs von Gewissheiten als Wissen philosophischer Erkenntnistheorien – obwohl Wissen, Wahrheit und Gewissheit natürlich schon in derselben verbalen und philosophischen Galaxie unterwegs sind. Nein, es geht um die einfachen Dinge. Psychologen würden wohl sagen: Wenn du das Gefühl hast, dass unter dir der Boden wegbricht, halte dich an den kleinen Dingen fest, die wirklich noch gewiss sind. Der Sonnenaufgang. Die Gravitation. Die Verdauung. Das sage ich zu Bela, der griesgrämig und wie ein Suchender durch die Weltgeschichte schaut.

Tatsächlich geschieht in diesem Moment etwas mit ihm. Er lässt die Gabel auf den Teller fallen, stellt sein Glas hin, sein Gesicht hellt sich auf. Der nasse Dackel schüttelt sich: „Der Tod des Sie“, sagt er, „das ist doch eine Gewissheit. Niemand siezt mehr. Neulich, ich sag’s dir, da war ich – und ich meine: Ich bin jetzt auch nicht mehr der Allerjüngste – in einem Klamottenladen. Die schicke Brünette und, unter uns, ziemlich Attraktive – kein Sterbenswörtchen zu Alya, okay? – na ja, jedenfalls duzt die mich. Die war gefühlt 89 Jahre jünger als ich und mag todsicher keinen Rachmaninow. Aber ich Depp fühlte mich geschmeichelt, weil … na ja, du weißt schon.“

Bela ist noch kein alter weißer Mann, aber ich kenne die Gefühle, die er hatte. Und natürlich habe ich auch schon bemerkt, dass sich das Sie jetzt anfühlt wie ein Ausnahmezustand. Wie früher das Du. Du bist mit Leuten zusammen, die Du sympathisch findest und die Du aufgrund einer beruflichen Beziehung seit Jahren siezt – und plötzlich steht da das Du zwischen ihr (der Person) und Dir. Danach geht alles ratzfatz – und ihr seid Freunde.

Und jetzt kommt der Polizist ins Spiel: Ganz aussterben wird das Sie nämlich nicht. Der letzte Saurier wird der P-Rex sein, der Polizist. Duzt du einen Polizisten, werden meiner Info zufolge locker mal 600 Euro fällig. Günstiger wird es, wenn du „Du Mädchen“ zu ihm sagst. Die doppelte Beleidigung drittelt die Strafe: 200 Euro. Das tritt meine Fantasie los. Wie wollen Polizisten am liebsten angesprochen werden? Kann mir das mal jemand erklären?

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Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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