Wir brauchen Gott und die Kirche nicht mehr“, sagte Alya und goss in einem Akt totaler Ungeschicktheit Wasser über Belas grüne Hose, „wir haben ja jetzt Glennon Doyle!“
„Glennon wer?“, rief Bela.
„Glennon Doyle!“
Ich kannte Glennon Doyle auch nicht. Deshalb habe ich recherchiert. Nun wende ich mich mit Erkenntnissen an all die jungen Menschen, die nach 1945 geboren sind. Alle, die davor produziert und erschienen sind, ergo im Krieg leben mussten, können ruhig mit Lesen aufhören. Kann eine, die Hitler, Nazi-Deutschland und Holocaust erlebt hat, überhaupt noch an Gott glauben?
Denn um einen Gott(esersatz) geht es. Um soziale Medien. Und um Glennon Doyle natürlich. Sie ist eine Instavangelistin (aus Instagram und Evangelistin). Die Frau, USAlerin in High Heels und viel attraktiver als jeder Bischof, hat auf ihrem Kanal über 4000 Beiträge für 1,8 Millionen Jünger, vor allem aber Jüngerinnen. Klar, das ist weniger als die katholische Kirche, die 1,3 Milliarden real existierender Follower hat. Von denen hat aber nur ein Bruchteil die Heilige Schrift abonniert.
Glennon Doyle, sagte Alya, sage echt interessante Sachen. Beispiel: „Wenn ich mit anderen zusammen bin, ist alles, was ich höre, dass sie reden. Und wenn ich allein bin, höre ich Gott reden, und sie weiß mehr. Und sie ist oft still. Deshalb mag ich es, allein zu sein.“ Bela gähnte ostentativ und nippte dann an einem Erdbeer-Smoothie (eine neue Marotte). Alya ärgerte das: „Es ist doch besser, man beschäftigt sich so mit Gott und Religion als gar nicht!“ Bela: „Wer sagt denn so was?“ Alya: „Ich!“
Prinzipiell finde ich gut, wenn die Leute sich mit etwas beschäftigen. Gott, Goethe, Goro …, äh, Corona. Hauptsache, der Mensch verarmt dabei nicht geistig (was bei Corona freilich der Fall ist).
Doyle, die auch Autorin des „New York Times“-Bestsellers „Untamed“ ist, gilt als Philanthropin. Ich finde das echt eine gute Eigenschaft für jemanden, der Menschen Ratschläge geben will, der von seinen persönlichen Kämpfen und Heilungsprozessen auf andere schließen und Selbstsorge und Psychotherapie betreiben will. Es geht diesen sogenannten Instavangelisten aber, so scheint es mir, vor allem um Selbstoptimierung: Durch welche Tricks mache ich aus dem, wer ich bin, mehr und etwas Besseres? „Follow me, like me, aber akzeptiere meine profitablen Cookies.“
Also ich bin kein Vollzeitspiritueller (ein 24/7-Heiliger schon gar nicht), aber wenn ich mehr Zeit für so was hätte, würde ich die Religion von Glennon Doyle nicht annehmen. Ihr Surrogat lautet nämlich: get „Untamed“! So heißt ja ihr Buch. Werde ungezähmt! Das ist das Gegenteil von dem, was Gott, falls es ihn doch noch gibt, will: bändigen, besänftigen.
Spezialistin ist Glennon Doyle aber auf anderen Gebieten: „Ich weiß, es ist nicht das größte Problem auf der Welt, dass Kaffeetische so weit weg vom Sofa stehen, dass ich mich bewegen muss, um meinen Tee zu holen, ich sage nur, dass es auch nicht das kleinste ist.“ Ich finde: Das alles ist ein Problem. Hier geht es nicht um Transzendenz. Es geht um Netzpräsenz.
Schreiben Sie mir: mahlzeit@mamo.de
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/leben_artikel,-ansichtssache-gott-ist-tot-es-leben-die-instavangelisten-wie-glennon-doyle-_arid,1890320.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.demailto:mahlzeit@mamo.de