Kultur

„Ring des Nibelungen“ am Mannheimer Nationaltheater: Liebesbrief an einen idealen Zuschauer

Regisseurin Yona Kim spricht über ihre Arbeit an Wagners „Ring des Nibelungen“ fürs NTM, das die vier 15-stündigen Abende „Das Rheingold“, „Die Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ innerhalb von drei Wochen zeigt.

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Stefan M. Dettlinger
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Der Blick fällt schon auf das „Ring“-Ende: Yona Kim schaut um exakt 13.04 Uhr in die Partitur von Wagners letztem Tetralogie-Teil „Götterdämmerung“. © benjamin luedtke

Frau Kim, Sie müssen eine mutige Frau sein. Wie sehen Sie Ihren Mut auf einer Skala von 0 bis 10?

Yona Kim: Mut entsteht, wenn man nichts weiß. Insofern bin ich nicht mutig, sondern eher unwissend. Dadurch sieht es nach außen hin mutig aus. Aber ich wusste nicht wirklich, was auf mich zukommt.

Wagners „Ring“ in drei Wochen rausbringen - kennen Sie ein anderes Repertoiretheater auf der Welt, dass so verrückt ist?

Kim: Ich wüsste nicht, wo. Es könnte tatsächlich ein Novum sein.

Wie schaffen Sie das, fast 16 Stunden „Ring“ in so kurzer Zeit zu entwerfen, zu proben und für die Premiere auf die Bühne zu bringen?

Kim: Ich hatte nur knapp drei Wochen für die rein szenischen Proben und das für den gesamten 15-16 stündigen Ring. Hilfreich war, dass einige der Sänger das schon gemacht haben. Bei ihnen sind Text und Musik im Körper, das ist eine gute Grundlage. Noch wichtiger ist aber natürlich, dass ich gut vorbereitet in die Probenschlacht einsteige. Das heißt aber nicht, dass jede Handbewegung und jeder Blick der Sänger im Voraus festgelegt sind. Nehmen wir die zweite Szene aus der „Walküre“. Das ist diese wahnsinnige Liebesgeschichte zwischen Siegmund und Sieglinde. Mit viel Schweigen und Blicken. Wie zeigt man das? Die Musik erzählt ja geradezu jeden Atemzug der Liebenden. Also kann es nicht mein Interesse sein, diese Musik durch eine buchstabengetreue Umsetzung auf der Bühne zu doppeln. Deswegen versuche ich vor der Probe genau zu erspüren, wo das theatralische Kraftzentrum einer Szene liegt, und dann in der Probe mit den Sängern dorthin vorzudringen. Alle Bewegungen und Blickrichtungen von ihnen dienen dazu, dorthin zu gelangen. Das Ziel ist klar abgesteckt, dann fühlen sich die Sänger sicher und auf dem Weg zum Ziel lasse ich die Sänger freispielen. Unter Zeitdruck probe ich rasend schnell, manchmal werden zwei lange Szenen aus einem Auszug innerhalb einer dreistündigen Probe fertig. Diese Arbeitsweise war notwendig, aber das Tempo der Probe hat auch geholfen, den großen Bogen eines Aufzugs und darüber hinaus des ganzen Rings im Blick zu behalten.

Seit wann arbeiten Sie daran?

Kim: Genau vor einem Jahr wurde die Idee eines neuen Rings geboren. Zuerst war es als konzertante, dann als halbszenische Aufführung gedacht, aber halbszenisch gibt es ja genau so wenig wie halbschwanger. Sobald ich die Geste eines kostümierten Sängers bewusst zeige, ist das szenisch. Konkret an einer Inszenierung begann ich dann erst im letzten Herbst zu arbeiten. Nun ja, es wuchs und wuchs und wuchs. Und es wächst weiter und soll im Herbst nach Südkorea reisen und weiter wachsen. Es ist ein riesiger Organismus, der sich in sich bewegt. Das ist sehr spannend, aber auch mit vielen Unwägbarkeiten gepflastert. Ich stehe jeden Morgen auf und mache drei Kreuze, damit ich den heutigen Tag überlebe.

Ich sehe an Ihrer Halskette auch einen goldenen Ring. Ist es der Glücksbringer für den „Ring“?

Kim: Den habe ich seit zwei Jahren. Es ist also Zufall. Aber tatsächlich werde ich ihn noch als Talisman für das Projekt taufen. So betrachte ich das schon seit drei Monaten.

Hilft es?

Kim: Ich glaube schon. Glauben versetzt ja Berge. Ich bin relativ abergläubisch, aber dieser Ring hat mich schon vor einigen Dingen geschützt, denn Aberglaube macht einen ja auch vorsichtiger. Da passt man lieber zweimal auf. Also wenn ich den Ring anfasse, frage ich mich schon: Yona, was machst du da gerade? Bleib ruhig. Rangehen. Machen. Fürs Innehalten ist es nicht schlecht.

Sie haben mehr als 30 Opern inszeniert. Was ist schwierig am „Ring“?

Kim: Die Länge. Die Redundanz. Die Dimension. Das Sitzfleisch der Leute. Und auch die philosophische Ebene. Die Sprache ist da der Ideenträger, aber die Musik steht ebenbürtig daneben. Daraus eine theatrale Situation zu entwickeln, ist neu für mich. Im Ring wird alles so ausführlich und wiederholend erzählt. Das hat mich am Anfang erschlagen. Nach einer Woche hören und lesen bin ich zu dem Schluss gekommen: Ich kann das nicht. Aber jetzt, mit den Menschen auf der Bühne, entdecke ich alles neu. Die Sache wird sprachlich so präzise wie deutlich benannt, und jeder Ton ist begründet. Ich bin nun zu hundert Prozent überredet. Aber ich gestehe, ich bin bei aller Zeitnot nicht unfroh, keine Zeit zu haben, diese unfassbare Präzision, den beängstigenden Gestaltungswillen Wagners bedienen zu müssen. Das wäre die Hölle.

Klingt nach work in progress.

Kim: Genau. Bayreuth macht auch nichts anderes. Alles wird ständig weiterentwickelt, von Jahr zu Jahr. Wir werden weiter daran arbeiten. In einem halben Jahr bin ich vielleicht ein anderer Mensch mit einem anderen Blick darauf, das ist bei den Zuschauern oder Kritikern dasselbe. Insofern ist es nicht verkehrt, dass man weiterdrehen darf.

Nach „Tristan“ und „Parsifal“ in Braunschweig und „Lohengrin“ in Osnabrück kommen nun die Wagner-Opern 4, 5, 6 und 7 von Ihnen. Gewöhnt man sich eigentlich ans langsame Erzählen Wagners, wo Wichtiges musikalisch passiert, was per se regieunfreundlich ist?

Kim: Ja, es ist handlungsarm. In der „Walküre“ etwa das Gespräch von Wotan und Brünnhilde nach dem Ehekrach Wotans mit Fricka, die nicht will, dass die Wälsungen gerettet werden - da passiert äußerlich nichts. Es ist ein langes Streitgespräch zwischen dem Vater und der Tochter. Aber in der Musik und im Text ist so viel los. Bei der Probe haben wir, weil die Sänger so gut vorbereitet waren, festgestellt: Das ist die spannendste Szene. Und wie man diese Energie hält, eine Dreiviertelstunde lang, das ist die Aufgabe der Sänger, des Dirigenten und von uns im Backstagebereich. Da muss alles eingesetzt werden, um den Pegel zu halten. Wir tun alles dafür. Aber von den Zuschauern erwarte ich nicht, dass sie 16 Stunden durchgehend bei der Sache sind. Wenn da mal jemand nachlässt und einnickt, wenn er aber wieder aufwacht, sind wir immer noch da und erzählen diese fantastische Geschichte (lacht).

Kim und der „Ring“

  • Yona Kim: Die gebürtige Südkoreanerin promovierte in Wien mit einer Arbeit über Ingeborg Bachmann und war danach als Autorin und Librettistin, ab 2005 auch als Opernregisseurin tätig. Mittlerweile hat sie mehr als 30 Opern inszeniert. In Mannheim zeigte sie 2017 Schumanns „Genoveva“, 2018 Verdis „Ernani“, 2019 Bizets „Carmen“. Zusammen mit Adriana Hölszky (Musik) hatte Kim 2014 als Librettistin „Böse Geister“ gezeigt, die von Opernkritikern als „Uraufführung des Jahres“ gewählt wurden.
  • Der Ring des Nibelungen: „Das Rheingold“ (9.7., 19 Uhr), „Die Walküre“ (17.7., 17 Uhr), „Siegfried“ (22.7., 17 Uhr), „Götterdämmerung“ (30.7., 17 Uhr).
  • Info/Karten: 0621/1680 150.

So sehen Sie das!

Kim: Ja, und als ich selbst in Mannheim diesen legendären „Parsifal“ gesehen habe, war das eine spannende Erfahrung für mich. Ich fand diese Ästhetik aus den 50er Jahren wunderbar und die Aufführung stimmig. Ich bin aber doch eingepennt. Nach einer Viertelstunde bin ich aufgewacht und nichts hatte sich verändert. Alles war immer noch da. Ich hatte den Eindruck: Ich habe nichts verpasst. Ein seltsames Gefühl von Dankbarkeit überkam mich dabei. Das hat mich an meine Kindheit erinnert, als ich am Strand beim Geräusch von Wellen eingeschlafen bin. Beim Aufwachen hatte sich nichts verändert. Ich war so froh, dass die Wellen und das Meer immer noch da waren und lauschte dem Geräusch beglückt weiter.

Der „Ring“ ist ja Wagners aktuellstes Werk. Meist wird es antikapitalistisch gedeutet und der nach Reichtum und Macht lechzende Mensch als Ursache allen Übels gezeigt. Und dann gibt es noch das zweite große Thema: die Natur und der Mensch, der sie zerstört. Wo setzen Sie an?

Kim: Es ist absolut zeitlos. Den Kapitalismus, die Gier und das Raubtier Mensch gibt es schon ewig.

Das meinte ich mit aktuell: Es ist immer aktuell, aber die Naturthematik ist mit der anstehenden Klimakatastrophe doch sehr heutig.

Kim: Ja, das ist sehr greifbar. Und endlich spürt das jetzt auch die ganze Bevölkerung. Ich setze aber nicht eine bestimmte Thematik. Das würde den Ring verkleinern. Es gibt so viele. Es ist eine ganze Enzyklopädie von Themen. Ich blicke aus der Vogelperspektive auf die Sache und lasse alles gleichzeitig nebeneinander bestehen. Das führt zur Frage: Wie sieht die Bühne aus. Wir haben einfach keine Bühne gebaut und erzählen im freien Raum von der Genese aus Gier, Hybris, Neid und Liebe. Es geht um uns, um menschliche Schwächen und Ängste.

Haben Sie denn eine Absicht?

Kim: Ich wollte mit meiner Arbeit nie belehren oder wie eine Doktrin wirken. Es genügt mir, wenn irgendetwas bei den Leuten zurückbleibt, - sei es ein Lichtverhältnis auf der Bühne, eine bestimmte Atmosphäre, eine Bewegung. Wenn ich etwas im Herzen und Kopf der Zuschauer ausgelöst habe, wird es sich vielleicht später bei ihnen zu Wort melden und in ihr Leben hineinwirken oder auch nicht. Ich will nichts didaktisch erreichen. Wenn da irgendetwas weiter geht in den Köpfen, auf eine geheimnisvolle Weise, die ich nicht mehr verfolgen kann, dann ist es gut.

Da haben Sie doch etwas erreicht.

Kim: Ja, aber nicht mit einer konkreten Message, mit der ich die Gedanken der Zuschauer steuern will.

Es ist ja der „Ring“ nach dem „Ring“, den ihr Mann, Mannheims ehemaliger Opernintendant Klaus-Peter Kehr, mit Achim Freyer hier herausgebracht hat. Sie kennen sicherlich Freyers „Ring“ gut. Ist es schwer, sich von den Bildern zu lösen, sich zu entfernen?

Kim: Ich habe ein paar starke Bilder vom Freyer-„Ring“ im Kopf, aber weil ich ganz anders denke, sehe ich da keine Gefahr.

Wollen Sie sich nicht absetzen zum Vorgänger? Anders: Anfangs war die Tetralogie als White-Wall-Projekt geplant. Nun war ja schon Freyer eher ein Licht- denn ein Kulissenspektakel. Wie aufwendig wird es bei Ihnen werden?

Kim: Licht spielt auch bei mir immer eine große Rolle. Aber als die Idee aufkam, den „Ring“ zu machen, war ich sofort von der Idee besessen, dass das Orchester der Erzähler ist. Es weiß immer mehr als die Figuren und kündigt mit Motiven das Kommende an. Es ist wie der auktoriale Erzähler im Roman des 19. Jahrhunderts. Das war meine ästhetische Entscheidung, die wirklich neu ist: Ich thematisiere das Orchester.

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Sie lassen auf der Bühne spielen?

Kim: Das nicht, aber ich setze ein Geisterorchester auf die Bühne. Wir haben die Orchesterbestuhlung identisch auf der Bühne nachgebaut. Das ist unsere Welt. Hier, in den versteckten Tälern und Schluchten, wird erzählt. Die Instrumente aus dem Graben spielen oben auf der Bühne auch eine Rolle. Die haben ja eine unheimliche Aura. Cello. Kontrabass. Blech. Wir haben sie als performative Akteure auf der Bühne verfremdet, etwa mit Mullbinden eingewickelt oder blutend. Ich habe dabei an die Fluxus-Künstler gedacht, Nam June Paik, Yoko Ono oder Joseph Beuys. Die haben auch die Instrumente in neue Kontexte gestellt. Dadurch entstehen neue Wahrnehmungshorizonte. Das war für mich einer der Ansätze, an den „Ring“ ranzugehen. Und dann hört man die Musik viel sinnlicher, konkreter, haptischer. So nähern wir uns dem Stück.

Bei Fluxus wurden Instrumente zersägt …

Kim: … das machen wir nicht, das wäre zu teuer, das sind ja alles echte Instrumente. Wir stellen aber einiges mit ihnen an. Wir können auch den Konzertflügel nicht in Flammen setzen. Das hätte ich am Ende gern gemacht. Jetzt verrate ich aber zu viel.

Mit diesem „Ring“ fliegt das NTM nach Südkorea in Ihre Heimat. Haben Sie das Projekt angeleiert?

Kim: Nein, das war eine Überraschung. Ich kenne auch niemanden mehr in Südkorea, ich bin schon so lange weg von dort.

Wie finden Sie das?

Kim: Wunderbar. Ich musste sofort an den Film von Werner Herzog denken, „Fitzcarraldo“, wo sie im Amazonas ein Opernhaus bauen wollen. In dem hochkapitalistischen Südkorea den antikapitalistischen „Ring“ spielen - das ist doch fantastisch.

Ist das ökologisch vertretbar?

Kim: Wagner selbst wäre nicht erfreut, wenn er wüsste, dass wir mit dem Gastspiel die Welt noch mehr zerstören (das NTM sagt, die Reise werde CO2-neutral organisiert, d. Red.). Andererseits wäre er auch froh, wenn im Fernen Osten sein „Ring“ gespielt würde, vom Nationaltheater mit deutscher Besetzung. Das ist für die Südkoreaner sehr wichtig. Originalsprache. Deutsches Orchester. Deutsches Theater. Die sind sehr originalitätsbeflissen. Und das wird dort auch so beworben.

Wie wird Wagner dort gesehen?

Kim: Er flößt Respekt ein. Es gibt auch hartgesottene Wagnerianer wie überall auf der Welt. Wir werden dort ziemlich unter die Lupe genommen.

Wird der zwiespältige Charakter, der Größenwahn und Antisemitismus dort thematisiert?

Kim: Bei Insidern vielleicht, da ist es ein Gesprächsstoff ohne Ende.

Wird es koreanische Übertitel geben?

Kim: Bestimmt. Ich bin gespannt, wer die Stabreime übersetzt …

… in eine Sprache, in der es keine Vergangenheit gibt. Welches Verhältnis haben Sie zu Wagner?

Kim: Ah, da brauche ich mindestens drei Tage.

Probieren Sie eine Kurzform?

Kim: Es ist eine Hassliebe. Ich glaube, jede echte Liebe ist eine Hassliebe, sonst käme auch keine Kraft zustande. Man muss ja Reibungsfläche haben und Angriffsfläche bieten und suchen.

Glenn Gould hat Mozart gehasst - das hört man den eingespielten Sonaten an. Ist bei Ihnen im „Ring“ der Hass stärker oder die Liebe?

Kim: Bei mir ist die Liebe dann doch ein Prozent größer als der Hass. Ich möchte nicht zeigen, dass ich Wagner hasse. Das mache ich besser bei meinem Therapeuten. Aber die Wahrheit würde ich ohnehin erst nach einem Glas Rotwein sagen (allgemeines Lachen). Wagner ist ein Phänomen.

Sie kennen das Mannheimer Publikum sehr gut. Wie, glauben Sie, wird Ihre Arbeit ankommen? Ist das Ihnen wichtig?

Kim: Es wäre gelogen, wenn ich sagte: Es ist mir unwichtig. Aber ich stelle mir auch nichts konkretes vor. Ich stelle mir einen idealen Zuschauer vor. An ihn richte ich meine Arbeit. Imaginär. Er ist mein absolutes Du. Er versteht mich. Die Mannheimer sind immer für eine Überraschung gut. Ich will die Zuschauer fordern, auf keinen Fall unterfordern. Überfordern auch nicht. Jede Inszenierung ist mein Liebesbrief an einen imaginären idealen Zuschauer, der das versteht und vielleicht auch berührt wird oder sich ärgert. Man kann ja so oder so reagieren. In jedem Fall emotional. Nur egal soll es den Leuten nicht sein.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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