„Ich sah zwei radikale, leidenschaftliche, kluge, großherzige und zugleich sehr humorvolle Spielerinnen“, würdigte Preis-Patin Victoria Trauttmansdorff in ihrer Laudatio die beiden Schauspielerinnen Annemarie Brüntjen vom Mannheimer Nationaltheater und Amelle Schwerk vom Schauspiel Hannover: „Zwei Frauen, die weder Angst vor großen Gefühlen noch vor Härte haben.“ Die beiden Künstlerinnen wurden bei der Verleihung des Deutschen Schauspielpreises in Berlin mit dem Therese Giehse Theaterpreis ausgezeichnet. Wir sprachen mit Brüntjen über diese Auszeichnung – und ihren Weg dorthin.
Frau Brüntjen, herzlichen Glückwunsch, Sie sind für ihre Rolle in der NTM-Produktion „Der gute Mensch von Sezuan“ mit dem Therese Giehse Preis ausgezeichnet worden. Was bewirkt eine solche Auszeichnung?
Annemarie Brüntjen: Im ersten Moment war ich einfach nur sehr überrascht, dann habe ich mich total gefreut. Der Preis ist eine schöne Anerkennung. Dass er in diesem speziellen Fall auch noch von Victoria Trauttmansdorff als Patin vergeben wurde – einer Schauspielerin, die ich selbst total schätze – ist umso schöner. Es hat mich sehr gerührt, wie sie in ihrer Laudatio beschrieben hat, was sie in mir und in meiner Rolle gesehen hat – gerade, weil mir die Rolle der Shen Te und diese Arbeit wirklich viel bedeuten.
Schauspielerin in Berlin, Halle und Mannheim
- Annemarie Brüntjen wurde 1993 in Oldenburg geboren. Von 2012 bis 2016 studierte sie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“.
- In der Spielzeit 2015/16 war sie Schauspielmitglied am Berliner Ensemble, wo sie mit den Regisseuren Franz Wittenbrink, Claus Peymann und Robert Wilson arbeitete. Von 2016 bis 2018 war sie am Neuen Theater Halle engagiert.
- Nach einer Spielzeit am Renaissance-Theater in Berlin ist Brüntjen seit der Spielzeit 2019/20 Ensemblemitglied des Mannheimer Nationaltheaters (NTM).
- 2016 erhielt sie den Günther-Rühle-Preis.
- „Der gute Mensch von Sezuan“ soll am Nationaltheater in der zweiten Spielzeithälfte des Kalenderjahres 2024 wieder ins Programm aufgenommen werden.
- Ab 3. November (Premiere) ist Brüntjen in der NTM-Neuproduktion „Don Quijote“ (Regie: Friederike Drews) im Alten Kino Franklin zu sehen.
Shen Te ist ein selbstlos gute Frau, die ein zweites, männliches Ich, Shui Ta, erfindet, um mit aller Härte in der kapitalistischen Erbarmungslosigkeit zu bestehen. Wie haben Sie in diese Rolle(n) gefunden?
Brüntjen: Ich habe zunächst nach den Gegensätzen in ihnen gesucht, nicht nach dem Verbindenden – obwohl es ja trotzdem der eine Mensch ist, aus dem diese beiden Rollen entstehen und sie im Laufe des Stückes doch immer mehr miteinander verschmelzen. Da ist Shen Te, die versucht, Gutes zu tun. Und von der ersten Sekunde an klappt das nicht. Ich habe ihre Sehnsucht danach verstanden, dass jemand kommt und Ordnung schafft. Ein zweites Ich, das Dinge tun kann und bei dem man Eigenschaften ablagert, zu denen man selbst nicht in der Lage ist. Ein Alter Ego, das im Anschluss dann wieder weg ist, das man abstreifen und wieder gut sein kann. Das fand ich total spannend, diesen Abgrund zu suchen und mich zu fragen: Wo ist das bei mir?
Auf der Bühne die Möglichkeit zu haben, in eine Rolle zu schlüpfen und etwas auszuprobieren, das ich mich vielleicht privat gar nicht trauen würde, das ist, glaube ich, das Schönste.
Generell: Was ist das Schönste am Schauspielberuf – und worüber kann man sich am meisten die Haare raufen?
Brüntjen: Ich frage mich das selbst ganz oft, warum ich diesen Beruf mache (lacht). Und ich schwanke da auch immer mal wieder. Ich glaube, dass ich als Privatperson sehr viele Ängste habe und dass der Beruf mich zwingt, immer wieder in diese Ängste reinzugehen und mich nicht zu verstecken. Auf der Bühne die Möglichkeit zu haben, in eine Rolle zu schlüpfen und etwas auszuprobieren, das ich mich vielleicht privat gar nicht trauen würde, das ist, glaube ich, das Schönste. Und das zum Haare-Raufendste ist: Wenn eine Probe super gelaufen ist, kann ich schon davon ausgehen, dass die nächste Probe nicht gut wird (lacht). Man muss lernen zu akzeptieren, dass man auf Proben eigentlich permanent scheitert. Wenn es im Probenprozess Punkte gibt, an denen man selbst merkt, ich komme da nicht weiter, ich stecke da irgendwo fest – bis da mal der Knoten platzt, kann echt Zeit vergehen.
Wann wussten Sie, dass Sie Schauspielerin werden wollen?
Brüntjen: So ganz kitschig: eigentlich schon immer! (lacht) In der Grundschule habe ich in einem Theaterstück meiner Klasse mitgemacht, und da habe ich das schon meiner Mutter gesagt.
Also kein spezielles Erweckungserlebnis...
Brüntjen: Meine Mutter hat mich immer mit ins Theater genommen. Ich glaube, dadurch wurden mir früh Türen geöffnet. Aber ich denke wirklich, es kam aus dem Spielen heraus. Ich habe mir in Vielem immer das Spielerische gesucht, und ich glaube, dieses Nicht-Aufhören-Wollen zu spielen war eigentlich immer das, was mich angetrieben und wo es mich hingezogen hat. Ich mache ja auch ganz viel Musik.
Sie hatten auch ein Musik-Duo gegründet, Selent, mit dem Sie bei der Mannheim Music Week gespielt haben. Gibt es das noch?
Brüntjen: Das Projekt ist ein bisschen eingeschlafen. Ich mache das mit meinem Freund Paul (Simon, Anm. d. Red.) zusammen. Der ist auch Schauspieler und in Wiesbaden engagiert. Die Band ist in der Corona-Zeit entstanden, wir wollten uns kreativ austoben, wenn wir schon nicht auf die Bühne konnten. Wir haben tatsächlich auch zehn Lieder aufgenommen und nur eins herausgebracht (lacht), weil dann diese Zeit auch schon wieder vorbei war. Aber wir haben uns fest vorgenommen mit Selent weiterzumachen, sobald wir mal wieder mehr Zeit haben. Ich glaube allerdings, wir würden dann wieder in eine komplett andere Richtung gehen. Das ist wie im Theater: Jetzt würde ich die Rolle der Shen Te vielleicht anders spielen, als noch vor einem Jahr. Meine Arbeit ist immer stark davon beeinflusst, was ich gerade erlebe und was mich umtreibt, wie ich mich als Mensch verändere.
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