Na, was nun? Spanien rein oder Spanien raus? „Carmen“, die spanischste aller Erfolgsopern, will die Regisseurin dieses Abends, wie sie selbst sagt, von ihrer „abgestandenen Exotik“ befreien. Mehr: Sie will das Werk wegkatapultieren von der „sevillanischen Zigarettenfabrik-Romantik“ und stattdessen in ihr inneres Zentrum vordringen. Okay! Ins Zentrum vordringen - wollen das heute nicht alle?
Doch dann fügt Yona Kim, so heißt die Frau, die alles ent-exotisieren, ent-sevillaisieren und ent-spanisieren will, dem Werk auch noch eine Rolle hinzu, die es gar nicht hat: eine (ausgerechnet!) spanisch sprechende Schauspielerin, die schon am Anfang in etwa so zärtlich von Liebe spricht wie eine AK-47. Das Spanisch rattert. Blicke wandern auf die Übertitel. Ein Raunen durchzieht den Saal. Da startet Bizets Exotik-Maschinerie mit militärischer Präzision. Wie geht das alles zusammen?
Spanien rein. Spanien raus. Immerhin: Die Mimin Lucía Astigarraga macht das gut. Sie hat alles, was Carmen braucht: Körperlichkeit. Sex-Appeal. Präsenz. Ausstrahlung. Einen Hauch Verruchtheit. Kommt Mann ihr zu nah, ist Mann verloren. Aber Signora Astigarraga ist nun mal nicht Carmen, sondern allenfalls ein Alter ego, der Wirt Lillas Pastia oder eine Conférencière. Oder auch nicht. Das alles ist eigentlich egal. Doch die Frage sei erlaubt: Was, zum Teufel, ist bei „Carmen“ abgestanden? Die Musik? Die Kastagnetten? Der Stierkampf? Die Liebe? Die Erotik? Die Methode der zum Tode führenden Eifersucht? Ja, der ethisch fragwürdige Stierkampf, der hier per Video durch den Abend geistert.
Club und Resistance-Zentrum
Yona Kim, Bühnenbildner Herbert Murauer und Kostümbildner Falk Bauer finden hochästhetische, zur Schwarz-weiß-Optik neigende Bilder. Wahrscheinlich sind wir irgendwo in der Franco-Diktatur. Serielle nackte Betonwände. Es herrscht Zucht und Ordnung. Die geistig minderbemittelten Soldaten geilen sich an den schönen Damen aus einer Black Box auf, mehr: die fast ejakulierende Erotik wird zur Triebfeder ihrer gewaltigen Aggressionsausbrüche.
Dieser schwarze Kasten, der als suprematistisches Fragezeichen nervig (und lautstark) nach vorn und hinten geschoben wird, ist Gegenwelt, Club, Resistance-Zentrum und psychologischer Raum zugleich (und vielleicht ja auch eine Art Bordell?). Dort treten sie auf: Carmen. Mercédès. Frasquita. Schwarz. Blond. Rot. Für jeden etwas dabei. Wie eine medial gecoverte Girlie-Band stehen sie sexualisiert auf der Treppe an den Mikrofonen und singen: „Was ist des Zigeuners höchste Lust? … Tralalalala“.
Tabakrauch steigt empor. Hüftschwünge. Soldaten reiben sich da nicht nur die Augen. Aber wer hat hier die Macht? Kim versucht eine Ikonisierung Carmens. Don José, dem Irakli Kakhidze wieder einmal tenorales Weltniveau verleiht, ist ein schüchterner einfacher Soldat. Carmen, die bei Jelena Kordic zu einer so starken wie auch zerbrechlichen Figur voller Facetten wird, könnte auch als nacktes Pin-Up-Girl in Josés Spint hängen. Doch sie ist nun mal hier. Leibhaftig. Und die Psychologisierung im Parallelogramm mit dem Torrero Escamillo und dem Bauernmädchen Micaëla, ist gelungen. Im Grunde. Aber irgendwie bleibt die Emotion auf der Bühne stecken, staunen wir ob des hochästhetischen Designs der Wände und Gewänder, der, ja, nahezu perfekten Personenführung.
Vielleicht gibt es zu viele Brüche. Vielleicht ist die Verweigerung des folkloristischen Kolorits (siehe oben) zu weit getrieben. Vielleicht entsteht hier nie narrativer Sog, der uns die Welt dort draußen für Augenblicke vergessen lässt, weil Kim genau dies nicht will, in dem sie uns - auch durch die Schauspielerin - nie zu 100 Prozent rein nimmt. Wir bleiben immer als Betrachter im Auditorium sitzen.
Immerhin ist der Abend ein Sängerfest. Am Ende gibt es viel Beifall für Sopranistin Eunju Kwon und Tenor Irakli Kakhidze. Die eine, Kwon, ist als Micaëla gewissermaßen Nebenbuhlerin Carmens, der andere, Don José, Subjekt der Begierde für beide. Zwar hat Jelena Kordic als Carmen gewisse Probleme, sich in diesem starken Umfeld als „Mezzo assoluta“ und Popstar zu etablieren, doch vor allem in zarten, in sich gekehrten Passagen lässt sie die Schönheit ihres Timbres und die Kultur der Phrasierung aufblühen. Neben Irakli Kakhidze hat sie es besonders schwer. Der Schmelz, die Kraft, die Möglichkeit müheloser Höhe und gleichzeitig die Freiheit der Tongestaltung und -modifizierung - das ist nicht weniger als sensationell.
Unverbrauchte Soprantöne
Auch die arg spießig und eindimensional angelegte, doch auf der Bühne sehr präsente Micaëla von Eunju Kwon hat ein Extremniveau. Erstaunlich ist bei ihr, dass sie auch nach vielen Jahren am Nationaltheater immer noch vollkommen unverbraucht und gesund klingt. Rein, pur und einfach schön strömt ihr Sopran. Die beiden Carmen-Verbündeten Mercédès und Frasquita liefern ebenfalls höchste Qualität. Martiniana Antonie macht ihre Sache gut, und vor allem Nikola Hillebrand überragt in den Ensembles deutlich die anderen. Im Terzett mit Carmen und Mercédès überstrahlt sie locker beide. Evez Abdullas Torero Escamilla ist weit weg vom Wischmopp-Escamillo des frühen 21. Jahrhunderts am NTM. Doch stimmlich ist das dunkle, etwas gedrückt und ein wenig steif wirkende Timbre Abdullas gewöhnungsbedürftig - zumal die erotische Ausstrahlung seiner Darstellung auf Carmen nicht leicht nachvollziehbar erscheint.
Christopher Diffey (solider Dancaïro), Raphael Wittmer (herausragender Remendado), der Chor von Dani Juris und der Kinderchor von Anke-Christine Kober sowie Reuben Willcox (Zuniga) und Marcel Brunner (Moralès) machen sich gut an diesem Abend, der sängerisch kaum Schwächen hat und musikalisch auf gutem Niveau ist, aber wenig berührt.
Dass der Beifall an diesem Abend für die Regie (und auch den Dirigenten Mark Rohde) eher unauffällig ausfällt, liegt daran, dass Yona Kim einen Abend zeigt, der - obwohl visuell und auch intellektuell irgendwie einigermaßen durchdacht - weder Herzen noch Köpfe erreicht. Und dass Rohde in seiner ersten Premiere als Erster Kapellmeister und Stellvertreter von Generalmusikdirektor Alexander Soddys mit dem Nationaltheaterorchester sehr solide, aber eben nur sehr solide agiert, hilft dem Abend auch nicht wirklich. Die Extreme der Partitur, das Panorama von extremem Feuer (etwa gleich die Ouvertüre kennt man vom Nationaltheater deutlich zünftiger) und intimer Innerlichkeit und Psychologie darf weiter sein.
Unter dem Strich bleibt da noch ein Abend auf hohem Niveau, der die letzten beiden „Carmens“ von Christopher Alden (2003) und Gabriele Rech (2009) mühelos wegwischt - wenn auch nicht, wie bei Alden, von Escamillo mit dem Wischmopp, sondern so: Spanien raus. Spanien rein.
„Carmen“ am Nationaltheater
- Das Werk: Die Uraufführung von Georges Bizets „Carmen“ fand am 3. März 1875 in der Pariser Opéra-Comique statt. Das Werk entstand nach der 1845 veröffentlichten Novelle Prosper Mérimées, die Henri Meilhac und Ludovic Halévy zum Libretto umarbeiteten. In Mannheim wird eine an die Originalfassung der „Opéra comique in vier Akten“ von 1875 angelehnte Version gespielt, deren Dialoge von Regisseurin Yona Kim durch spanische Monologe einer Schauspielerin ersetzt wurden.
- Die Handlung: Sevilla und Umgebung um 1820. Don José (Tenor), ein spanischer Soldat, verfällt der „Zigeunerin“ und Fabrikarbeiterin Carmen (Mezzosopran). Er gibt für sie sein bürgerliches Leben und seine Selbstachtung auf, gerät in einen immer tieferen Strudel der Abhängigkeit. Als sie ihn verlässt, ersticht er sie.
- Die Rezeption: Friedrich Nietzsche, der Richard Wagner lange Zeit sehr nahe stand, verstand „Carmen“ als musikalische Gegenwelt zu Wagner und befand, es sei die beste Oper, ein Triumph im Repertoire sei ihr sicher. Er sollte recht behalten. „Carmen“ wurde bereits 1905 allein an der Opéra-Comique zum 1000. Mal gegeben. Mit Mozarts „Zauberflöte“ gehört sie zu den meistgespielten Opern.
- Termine: 13./20./25./28. Dezember. 22. Januar, 9., 13., 19. Februar. 22. März. 25. April (Info: 0621/1680 150).
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