Mannheim. Sprechtheater doziert gerne. Aber es lernt auch schnell. Zum Beispiel, dass heutzutage die dicksten Dramen-Brocken, die unangenehmsten gesellschaftlichen und historischen Sachverhalte mit etwas Tanz, Musik und Film, also quasi im Musical-Format, müheloser zu den im Brecht’schen Sinne „immer verstockteren Herzen“ des Publikums sprechen. Gut zwei Jahrzehnte lang war der ulkig gewandete Alleinunterhalter, meist nur ein an der Rampe platzierter deutscher Jammerbarde englischer Zunge, unerlässlicher Bestandteil nahezu jeder Schauspielinszenierung. Mit Musik geht alles besser. Mit Video und Tanz auch.
Das weiß ganz offensichtlich auch der seit dem Ukraine-Angriff zum Exil-Russen gewordene Regisseur Maxim Didenko, der es zum NTM-Spielzeitauftakt unternommen hat, Roman Dolzhanskiys Bühnenfassung zu Erich Maria Remarques spätem Roman „Die Nacht von Lissabon“ als großes Ensemblestück im Alten Kino Franklin zu inszenieren. Es ist, Obacht, – Trommelwirbel und Fanfare – ein extrem gutes Beispiel dafür, dass diese Arbeitsweise funktionieren kann.
Ein starkes NTM-Ensemble mit spannenden Neuzugängen
Gute Musicals stehen ja nicht nur für bunten Flitter und niederschwellige Unterhaltung, sondern auch für Emotion. Maxim Didenko bietet sie dort reichlich, wo Dolzhanskiys sinnvoll wie sensibel eingestrichene und somit höchst gelungene Theaterfassung sie braucht und zulässt. Es ist dies nicht die Grundsituation des nächtlichen Gesprächs zweier deutscher Exilanten im Kriegsjahr 1942. Eine Nacht Zuhören gegen die rettenden Papiere für das Entkommen aus dem faschistisch verseuchten Europa und für ein Leben in Freiheit. So lautet der hier literarisch gesetzte Deal zweier Verfolgter.
Für Remarque war dieses gefährliche, rastlos-verzweifelte Leben mit falschen Papieren unter den Gefahren von Denunziation, Verhaftung und Internierung derart prägend, das er ihm noch 1962, also 23 Jahre nach seiner Emigration und 17 Jahre nach Kriegsende, den Roman „Die Nacht von Lissabon“ widmete. Maxim Didenko hat ebenfalls aus eigener Betroffenheit Kenntnis vom Exilantendasein. Vielleicht gibt er daher der Intensität der existenziell notwendigen Taktik eines „Lebens für den Moment“ in den aus der Erzählung herausgeschälten Dialog- und Spielszenen mehr Raum. Mit seinem neunköpfigen NTM-Ensemble hat er hart daran gearbeitet, dies intensives Schauspiel werden zu lassen.
Regisseur Maxim Didenko
- Der russische Regisseur Maxim Didenko, Jahrgang 1980, galt in seiner alten Heimat als aktivistisches Enfant Terrible. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 verließ er Russland und lebt seither im Exil.
- Er inszenierte etwa beim Kunstfest Weimar (2017 „Tschapajew und Pustotka“), in Berlin am Deutschen Theater (2022, „Wir“) und Maxim Gorki Theater (2022 „The last word“), in Tel Aviv (2024 „Salome“) am Staatstheater Karlsruhe (2023 „Wozzeck“), am Staatsschauspiel Dresden (2024 „Das Schloss“) und am Mannheimer Nationaltheater 2019 Bölls „Ansichten eines Clowns“.
- „Die Nacht von Lissabon“ ist am 29. September, 4. und 13. Oktober sowie 2. und 9. November im Alten Kino Franklin zu sehen. Karten gibt es unter 0621/1680 150.
Sein Ensemble folgt ihm nicht nur, es läuft, weil es endlich mal Realismus spielen und Einfühlung zeigen darf, bis in die kleineren Mehrfachrollen hinein zu teils ungesehener Höchstform auf.
Boris Koneczny ist als Kunstsammler „Urschwarz“, also der erste Inhaber des später mehrfach Leben rettenden Passes auf den Namen Josef Schwarz, nicht minder eindrücklich wie als Arzt oder Wirt. Desgleichen beweisen Ragna Pitoll, Daniel Krimsky und Dominika Hebel ihre Wandlungsfähigkeit. Rahel Weiss kreist passiv-aggressiv eindringlich durch Vorzimmer und Pförtnerlogen wie die Drehbühne Patricia Talackos durch den schwarzen Nachthimmel und die rotlichternden Exilantenkneipen halb Europas.
Intensität auf der Leinwand, eine ganze Welt in den Augen
Hier wird in schauspieladäquater Minimal-Choreographie von Sofia Pintzou zeitintensiv kleinteilig getanzt, gesungen und musiziert (sensibel: Louis Lebee), manchmal fraglos zu viel und zu gewollt; auch ein Musical hat eben seinen Preis. Im Alten Kino Franklin ist Theater diesmal im Ganzen dennoch großes Kino, der überschwängliche Jubel des Publikums beweist es hernach.
Großen Anteil daran hat die Videoarbeit von Oleg Michailkov – vor allem in Verbindung mit dem Licht der darauf spürbar gut eingestellten Nicole Berry und dem Agieren des Handkamera-Manns, der eigentlich Hauptdarsteller ist: Rocco Louis Brück. Mehr noch als mit seiner Kameraführung und seinem den Vorlagenton treffenden Erzähler überzeugt er mit seinen Augen, in denen allein Remarques ganze Welt der Flucht und Vertreibung zu lesen ist. Starker Film hat im Theater den Nachteil, dass er die zwischen Live-Spiel und Leinwandprojektion geteilte Aufmerksamkeit irgendwann zu seinen Gunsten entscheidet. Die Gefahr ist hier groß.
Es bleibt dennoch ein Abend für großes Spiel: Eddie Irle gibt den die Zuschauerreihen bedrohlich abschreitenden SS-Schergen und Folterknecht ebenso gruselig authentisch wie im Spiel mit seiner Schwester Helen den hilflos verliebten Schwächling. Annemarie Brüntjen – und damit ist alles gesagt – übertrifft sich an diesem über dreieinviertel Stunden langen Abend in deren Rolle einmal mehr selbst. Und dazu noch das fesselnd-intensive Hausdebüt einer Ensemble-Neuverpflichtung, das sich gewaschen hat: Paul Simon als Josef Schwarz – sensationell gut und mehr als vielversprechend.
So lässt sich eine Spielzeit eröffnen und eine emotionale Geschichte atmosphärisch dicht erzählen, auch wenn es eine sehr traurige ist ...
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