Heidelberg. Große Worte oder Etikettierungen sind seine Sache nicht. Bernhard Schlink ist buchstäblich kein Freund der lauten Töne. Er wirkt dezent, wägt die Argumente sorgfältig ab. Klar und eher sachlich schreibt der Jurist und ehemalige Hochschullehrer auch als Erzähler. Und mit nunmehr 80 Jahren bleibt er ein engagierter Zeitgenosse, der keine Mühen scheut, wenn er von einer Sache überzeugt ist. Allüren kennt der Autor des Weltbestsellers „Der Vorleser“ nicht – und äußert auch über die gute Resonanz, die sein jüngster Roman „Das späte Leben“ fand, bescheiden nur, es freue ihn, wenn er gelesen werde und sich das Publikum berühren lasse. Sein Pensum will er weiter beitragen zu einem guten Miteinander und spricht im Interview über das Leben, das Alter und sein Schreiben …
Herr Schlink, Ihr jüngstes Buch, „Das späte Leben“, wurde überwiegend sehr positiv besprochen und ist ein Publikumserfolg – es scheint einen Nerv zu treffen. Was bedeutet das für den Schriftsteller, der sich mit jetzt 80 Jahren selbst in einer späten Werkphase befindet?
Bernhard Schlink: Ich freue mich bei diesem Buch wie bei meinen anderen Büchern, dass es gelesen wird – dass es Leser berührt und beschäftigt. Ich habe es nicht anders geschrieben als frühere Bücher. Ich hatte keine Botschaft, ich habe nie Botschaften. Dass ich das Buch geschrieben habe, hat gewiss mit meinem Alter zu tun und der Erfahrung, dass das späte Leben wirklich Leben ist; es ist kein Abgesang und besteht nicht nur aus Abschieden. Der Protagonist des Besuchs steht noch einmal vor neuen Aufgaben und Herausforderungen, und sich dazu zu verhalten, ist noch einmal ein neues Stück Leben.
Zwischen dem Juristen und dem Schriftsteller Bernhard Schlink gab es immer Berührungspunkte. Fragen nach Recht und Gerechtigkeit spielten in Ihren Büchern eine wichtige Rolle. Wie fügt sich da der jüngste Roman ein? Entfaltet er gewissermaßen eine Ethik des Alterns und des Alters überhaupt?
Schlink: Was für große Worte! Nein, ich hatte nicht vor, eine Ethik des Alters zu schreiben. Aber in meinem Alter steht anderes an als in jüngeren Jahren. Ich habe mich mit dem Tod ins Benehmen zu setzen. Wir sind im Leben immer vom Tod umfangen, und ich erwarte ihn nicht in Kürze. Aber er steht näher bevor als früher.
Bernhard Schlink
- Bernhard Schlink, am 6. Juli 1944 in Bielefeld geboren, wuchs auf in Heidelberg und lebt heute in Berlin.
- Literarische Bücher begann er neben seiner Karriere als Jurist und Hochschullehrer zu schreiben. Bekannt machte ihn die gemeinsam mit Walter Popp begonnene Romantrilogie um den Mannheimer Privatdetektiv Gerhard Selb.
- Den ersten Teil, „Selbs Justiz“, verfilmte Nico Hofmann unter dem Titel „Der Tod kam als Freund“. Schlinks Roman „Der Vorleser“ (1995) wurde zum Welterfolg und erreichte eine Millionenauflage. Auch die Verfilmung von Stephen Daldry mit Kate Winslet und David Kross in den Hauptrollen war international erfolgreich.
- Bernhard Schlinks jüngstes Buch ist der Roman „Das späte Leben“ (Diogenes Verlag, Zürich. 240 Seiten, 26 Euro) tog
Die Hauptfigur Martin Brehm ist wie Sie Jurist und ehemaliger Hochschullehrer. Steht er Ihnen womöglich näher als frühere Figuren in Ihren Büchern?
Schlink: Meine männlichen Figuren waren wohl immer, jedenfalls aufs Ende der Geschichten hin, nahe an dem Alter, in dem ich war, als ich sie schrieb. Das ist auch bei Martin Brehm der Fall, und so steht auch er mir nahe.
Martin muss seine abnehmende Souveränität und Selbstbestimmung akzeptieren lernen. Sehen Sie das als eigentliche Herausforderung im Alter an?
Schlink: Was Martin lernen muss, hängt damit zusammen, dass ihm die Endlichkeit seines Lebens durch die Auskunft des Arztes in Monaten bemessen wurde. Dadurch konzentriert sich, was sonst offener, unschärfer bleibt. Aber es gehört zum Alter, dass man über seine Zukunft nicht mehr so verfügen kann, wie man es in jüngeren Jahren konnte oder zu können meinte. Es gilt, sich damit zu befreunden.
Mit Blick auf die demoskopische Entwicklung werden Fragen von Altern und Alter noch wichtiger werden. Könnte Sie das auch künftig literarisch beschäftigen?
Schlink: Die Geschichten kommen zu mir, ich weiß nicht, warum und woher. Erst im Rückblick sehe ich, was sie mit meinem Leben oder der Welt, in der ich lebe, zu tun haben. Ob zum Altern und zum Alter nochmal eine Geschichte kommt, weiß ich nicht.
Was beschäftigt Sie denn aktuell?
Schlink: Alles mögliche, Bruchstücke von Geschichten, einzelne Personen, einzelne Situationen, nichts, was ich schon schreiben könnte. Daneben gibt es ein Projekt, das nicht belletristisch ist. Ich wurde eingeladen, ein kleines Buch über Gerechtigkeit zu schreiben, und weil mich Gerechtigkeit mein Leben lang beschäftigt hat, lockt es mich.
Ich bin dankbar, dass beides – das Recht und das Schreiben – in meinem Leben Platz gefunden hat. Und ich freue mich, dass das, was ich geschrieben habe, einen Verlag und ein Publikum gefunden hat.
Das ist ein großes Thema. Wie kreist man es ein? Geht es im Sinne des Philosophen John Rawls um ein Konzept von Gerechtigkeit als Fairness?
Schlink: John Rawls verdanken wir, dass seit ein paar Jahrzehnten wieder über Gerechtigkeit nachgedacht wird. Eine wichtige Frage ist, was von seinen und auch anderen Vorgaben für eine gute Gesellschaft tatsächlich Gerechtigkeitsvorgaben sind und inwieweit es eher um Würde, Freiheit, Glück, Solidarität, Wohlfahrt und so weiter geht.
Frühere Bücher spielten häufiger in Heidelberg und im Rhein-Neckar-Raum, in Ihrer alten Heimat also. Der jüngste Roman spielt in Berlin, wo Sie seit Jahrzehnten leben. Steht der Handlungsort des Buches für einen Abschied von der alten Heimat?
Schlink: Nein, wenn sich nichts Anderes aufdrängt, denke ich nach wie vor an Heidelberg, weniger an die Stadt als vielmehr an die Lage am Fluss, zwischen Bergen und Ebene, mit dem weiten Blick nach Westen. Beim „Späten Leben“ hatte sich ein bestimmtes Haus hier in Berlin aufgedrängt, am Rand der Stadt in Zehlendorf. Ich weiß nicht, warum, aber ich sah die kleine Familie dort leben.
Wenn Sie mit 80 Jahren zurückblicken auf Ihr Werk – wie fällt Ihre Bilanz aus?
Schlink: Ich bin dankbar, dass beides – das Recht und das Schreiben – in meinem Leben Platz gefunden hat. Und ich freue mich, dass das, was ich geschrieben habe, einen Verlag und ein Publikum gefunden hat. Ich habe meine Bücher nicht als ein Werk geschrieben. Ich habe einfach ein Buch nach dem anderen geschrieben. Ich mache mir auch keine Illusionen über einen Ort meines Werks in der literarischen Welt. Ich bin aufgewachsen mit dem Bücherregal meiner Eltern, in dem Werner Bergengruen, Hans Carossa, Edzard Schaper, Ernst Wiechert standen. Manches habe ich gelesen, manches war beeindruckend, heute ist es alles vergessen. Man schreibt in seiner Zeit und für seine Zeit.
Das klingt sehr gelassen. Wie stellt sich für Sie das Leben dar mit 80 – „friedlich und heiter“, wie es in Hölderlins „Abendphantasie“ heißt?
Schlink: Ich dachte zunächst, als Jurist könnte ich etwas bewirken und verändern. Ich habe gelernt, dass ich nur schreiben kann, was richtig ist, und dass seine Wirkung nicht in meiner Hand liegt. Damit habe ich schon früh meinen Frieden gemacht. Ich schreibe immer noch, was mir wichtig ist, freue mich, wenn es gelesen wird, und lasse dahinstehen, ob es etwas bewirkt.
Ihre politische Heimat war immer die SPD, mit der es ja nicht zum Besten steht. Wie haben sich die Heimatgefühle diesbezüglich entwickelt?
Schlink: Die Sozialdemokratie weiß nicht, was sozialdemokratische Politik heute sein kann und soll. Hier eine kleine Wohltat und da eine kleine Wohltat, hier und da ein bisschen mehr Geld, ist hilflos und einfallslos und gewinnt nicht einmal Wähler. Andererseits ist es eine schwierige Frage, wie sozialdemokratische Politik heute zu bestimmen ist. Ich hatte lange gehofft, die SPD würde sich um eine Antwort bemühen. Aber die Ebert-Stiftung verweigert sich dem, und die Grundwertekommission schafft das auch nicht. Es sieht nicht gut aus. Aber ich bin ein anhänglicher Mensch; ich bin bisher trotz guter Gründe nicht aus der Partei ausgetreten und werde es wohl auch künftig nicht tun.
Sie sind immer ein engagierter, Anteil nehmender Zeitgenosse gewesen. Wird das jetzt womöglich weniger werden?
Schlink: Ich arbeite mit einer Arbeitsgruppe der Hertie-Stiftung an der Frage, wie ein Gesellschaftsjahr verwirklicht werden kann. Es ist als Pflichtjahr vorstellbar, stößt als Pflichtjahr aber bei Jugendlichen jetzt, anders als vor Covid, überwiegend auf Ablehnung. Wir überlegen daher auch, wie sich Freiwilligendienste so ausbauen, so attraktiv machen, so zugänglich gestalten lassen, dass ihr Angebot jeden erreicht und jeden anspricht, und dass sie, anders als jetzt, jedem, der möchte, einen Platz bieten.
Aktuell wird über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutiert. Verträgt sich das mit Ihrer Idee eines Freiwilligendienstes?
Schlink: Wehrpflicht ist besonders sinnvoll als eine Option bei einer allgemeinen Dienstpflicht. Aber eine größere Attraktivität der Freiwilligendienste kann auch zu einer größeren Attraktivität des Freiwilligendiensts bei der Bundeswehr führen. Dazu, wie eine Wehrpflicht nach skandinavischem Modell zu einer allgemeinen Dienstpflicht geweitet werden könnte, gibt es noch kein Modell – derzeit ist viel in Bewegung. Ob er so oder so gestaltet wird – ich bin sicher, dass ein Gesellschaftsdienst zum sozialen Zusammenhalt beitragen wird.
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