Ein offenes Ende kann dieses Buch nicht haben, erst recht kein Happy End, jedenfalls nicht nach landläufigem Verständnis. Denn von Anfang an ist im Roman „Das späte Leben“ von Bernhard Schlink klar, worauf die Handlung hinausläuft. Zwar fängt alles mit einem schönen Frühlingstag an, doch Martin Brehm, die Hauptfigur, kann sich nicht daran erfreuen. Gerade war der 76 Jahre alte Jurist und ehemalige Hochschullehrer beim Arzt, und der hat ihm zwar verständig, aber unmissverständlich eröffnet, dass er wohl unheilbar an Krebs erkrankt ist.
Martin hatte sich untersuchen lassen, weil er sich schon länger erschöpft fühlte. Nun weiß er, dass ihm noch ungefähr zwölf Wochen bleiben bis zum Ende. Eine Chemotherapie lehnt er ab und will auch keine Hoffnung auf eine neue Behandlungsmethode setzen. Früher hatte ihn der Gedanke an den Tod zuweilen erschreckt, doch stets wies er sich dann mit der Überlegung zurecht, dass das Nichts eben buchstäblich nichts sei - und „was gab es da zu erschrecken?“.
Der Autor und sein neues Buch
- Bernhard Schlink, 1944 in Bielefeld geboren, wuchs auf in Heidelberg und lebt heute in Berlin.
- Literarische Bücher begann er neben seiner Karriere als Jurist und Hochschullehrer zu schreiben. Bekannt machte ihn die gemeinsam mit Walter Popp begonnene Romantrilogie um den Mannheimer Privatdetektiv Gerhard Selb.
- Den ersten Teil „Selbs Justiz“ verfilmte Nico Hofmann unter dem Titel „Der Tod kam als Freund“. Sein Roman „Der Vorleser“ wurde zum Welterfolg und erreichte eine Millionenauflage. Auch die Verfilmung mit Kate Winslet und David Kross in den Hauptrollen war international erfolgreich.
- Bernhard Schlinks jüngstes Buch ist der Roman „Das späte Leben“ (Diogenes Verlag, Zürich. 240 Seiten, 26 Euro)
Keine Frage, Schlinks Hauptfigur, welcher der Autor bezüglich Charakter und Biografie viel von sich selbst eingeschrieben hat, schätzt Selbstbestimmung und auch Selbstdisziplin. Er wägt ab, vertraut seinem Verstand und lässt sich nicht leicht von Gefühlen leiten. Und so ist es für ihn auch naheliegend, dass er sein Ableben vorzubereiten versucht, indem er vor allem für die Zukunft seiner Frau und seines kleinen Sohnes Sorge trägt.
Nach eigenen Vorlieben geprägt?
Als er Ulla kennenlernte, war er schon weit über 50. Und sie waren schon eine Weile zusammen, als Ulla schwanger wurde. Er hatte eigentlich kein Kind mehr gewollt, doch dann ist der nun sechsjährige David zum Mittelpunkt seines Lebens geworden - neben der kreativen, künstlerisch aktiven Ulla, die in ein paar Tagen 43 wird. Sie nimmt Martins Mitteilung über seinen Bauspeicheldrüsenkrebs zwar traurig auf, aber dennoch recht gefasst; der kleine David ermisst die Tragweite verständlicherweise allenfalls allmählich. Und Martin überlegt auf Anregung Ullas hin, ob er seinem Sohn nicht etwas Besonderes, Persönliches hinterlassen könnte.
Einen Wanderausflug machen die beiden alsbald, legen im Garten hinter dem Haus irgendwo in Berlin einen Komposthaufen an. Und Martin beginnt damit, David Briefe zu schreiben, in denen er sich einerseits selbst über sich Rechenschaft ablegt, über seine Wertvorstellungen und den Weg seiner Biografie, aber dem Sohn auch eine Art Lebenshilfe geben möchte. Eben dies führt zu Konflikten mit Ulla, die ihm vorwirft, er versuche David zu sehr nach eigenen Vorlieben zu prägen, statt ihn sich einfach entwickeln zu lassen. Auch hier zeigt sich Martins Dilemma: Der stets auf seine Art souverän durchs Leben ging, muss diese Souveränität und seine Einflussmöglichkeit nun aufgeben.
Das ist das eigentliche Thema von Schlinks Roman - wie einer, der immer den Überblick behielt, lernen muss, von seinem Leben zu lassen. Wie er buchstäblich zu sterben lernt, worin, nach einem berühmten Wort Montaignes, ja auch der Sinn des Philosophierens besteht. Weitere Aktivitäten Martins, von denen das Buch erzählt, sein Bemühen, Licht in Ullas Familiengeschichte zu bringen, um ihr so nochmals eine Stütze zu sein, und der Kontakt zu einer Männerbekanntschaft von ihr, sind demgegenüber eher zweitrangig - und erzählerisch auch etwas weniger überzeugend.
Martin lernt sich in seiner letzten Lebensphase selbst noch einmal neu kennen; er erinnert sich viel, während die Müdigkeitsanfälle häufiger, die Schmerzen stärker werden und seine Lebenszeit immer mehr verrinnt. Er klärt seine Lebensverhältnisse, was bei ihm eben vor allem intellektuell, schreibend erfolgt. Kann der Tod eine Befreiung sein? Ohne das Leben hat eine solche Kategorie keinen Sinn. Und schlimm ist der Tod eben deshalb, weil er nicht erlebt werden kann. Die Religion gibt Martin keinen Trost, denn im Gegensatz zu seinem eigenen Vater ist ihm nie der Sprung in den Glauben gelungen. Er lernt, seine Endlichkeit zu akzeptieren, verpassten Gelegenheiten nicht nachzutrauern und die verbleibenden Momente der Erfüllung zu genießen. Dankbar ist er vor allem für die Liebe seiner Nächsten.
Die Klarheit der Gedanken
Wie es dem sterbenden Martin um Klarheit geht, um buchstäblich geklärte Verhältnisse nicht nur zu Personen, sondern ebenso zu gesellschaftlichen und religiösen Fragen, so geht es auch dem Schriftsteller Bernhard Schlink in diesem Buch, in dessen Form und Darstellung. Die Schönheit von dessen Sprache liegt in einer Klarheit, die auch die der hier entwickelten Gedanken ist. Wie steht es um das Leben? Es kann als viel oder wenig erscheinen: „Man macht dies und macht das, und am Ende war’s ein Leben.“
Bernhard Schlinks „Spätes Leben“ ist ein lebenskluges und ehrliches Buch, illusionslos, doch nicht schonungslos und auch nicht unversöhnlich. Naturalistische Schilderungen des Leidens und dessen unweigerlicher Begleitumstände findet man hier erwartungsgemäß nicht, denn der Autor hat auch schon in früheren Büchern auf sie verzichtet. Dennoch ist unverstellt und durchaus bewegend vom Sterben die Rede. Man mag sich dabei denken: Wenn es so einmal zu Ende geht wie hier, muss der Gedanke daran tatsächlich nicht erschrecken.
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