2024. 2024 Umdrehungen habt ihr schon geschafft. Langsam und doch stetig dreht sich die große Maschine um die eigene Achse. Ein jeder packt mit an – wobei – nicht jeder. Nur die, die groß und stark genug sind, tragen merklich dazu bei, dass sich das große Rad, das die Maschine zum Laufen bringt, weiterdreht. Sie ist so hoch, dass ihr das Ende der Maschine, dort weit über euch, kaum noch erkennen könnt. Ehrfurcht überläuft einen Großteil von euch, wenn ihr seht, was dort oben auf der Spitze der Maschine thront: Es ist das Antlitz einer großen, kräftig gebauten Statue aus purem Gold, die in Siegerpose und in Form eines Mannes seit Jahrtausenden angebetet wird. Mit jeder Umdrehung wird dafür gesorgt, dass die Statue stabil auf dem Sockel stehen bleibt und das Getriebe nicht verrostet. Denn das ist es, was ihr wollt. Nun, zumindest, was ein Großteil von euch möchte. Du bist ein Teil dieser großen Masse. Du siehst hauptsächlich männliche Wesen, die an dem Rad der Maschine drehen. Der Großteil der Frauen steht am Rand und ist dafür verantwortlich, die Griffe zu putzen, an denen die Männer mit Kraft das Rad weiterdrehen. Die meisten Frauen kommen nicht an die Griffe dran, sie sind schlicht zu hoch – gebaut worden? Ein paar von ihnen schaffen es, mit Mühe an den Griffen zu zerren. Ob sie daran ziehen oder versuchen dagegen zu drücken, kannst du nicht erkennen. Auch du bist daran beteiligt, dass sich die Maschine weiterdreht. Schon öfter hast du dir überlegt, einfach loszulassen. Aber die Angst vor einer Veränderung bewegt dich dazu, mit der Masse weiterzugehen. 2024 Umdrehungen hat diese Maschine schon hinter sich gebracht, wieso gerade jetzt damit aufhören.
Eure Muse, eure götterähnliche Gestalt, euer Idealbild eines männlichen Anführers wird ebenfalls von Frauen dort oben bewacht. Du kneifst deine Augen zusammen, um zu erkennen, wie die Frauen den großen Hüter reinigen. Nanu – bei genauerem Hinsehen meinst du fast, Werkzeuge in ihren Händen zu sehen. Das kann doch gar nicht – „So, are you sleeping or are you working?“. Du blickst in das erboste Gesicht eines großen Mannes, der direkt vor dir einen besonders breiten Griff in der Hand hält. Du murmelst etwas vor dich hin, in der Hoffnung, den hitzigen Mann abwehren zu können. Doch dieser kommt erst richtig in Fahrt: „Well, I´m gonna tell you what to do. You‘re gonna continue working hard for this world. Actually, this is all my place and my work. I will be the leader of this whole thing here, I will call it: Machine of Ameri …“ (Nun, ich werde dir sagen, was zu tun ist. Du wirst weiter hart für diese Welt arbeiten. Tatsächlich ist das alles mein Ort und meine Arbeit. Ich werde es nennen Maschine Ameri ...) – doch weiter kommt der Mann vor dir nicht. Verdutzt fischt er ein klitzekleines Steinchen aus seiner eigenwilligen Föhnfrisur. Ihr schaut beide nach oben, könnt aber nichts erkennen. Mit bösem Blick dreht er sich wieder nach vorne um. Du atmest durch. Seine ungesunde Gesichtsfarbe hat dir Sorgen bereitet. Hat wohl als Kind zu viele Möhren gegessen, denkst du dir. Doch vor allem seine Worte lösen in dir ein mulmiges Gefühl aus. So jemand wie er sollte niemals so viel Macht besitzen. Der Griff ist viel zu breit für einen Menschen wie ihn. Um dich nicht weiter mit dem fragwürdigen Zustand des Mannes auseinandersetzen zu müssen, betrachtest du weiterhin die Menschen um dich herum. Dir fällt auf, dass manche Männer viel zu alt wirken, um noch weiter an der Maschine zu arbeiten. Doch nicht nur das, vereinzelt siehst du kleine Jungs, die auf den Schultern ihrer Väter sitzen und von klein auf das Konzept dieser Maschinerie verinnerlichen. Für einen kurzen Augenblick blitzt ein Bild durch deine Gedanken, wozu solche Massenideologien in dunklen Zeiten geführt haben. Aber darüber möchtest du nicht weiter nachdenken.
Annika Reinhardt
- Die Vorjahreszweite von „Erzähl mir was“ ist 21 Jahre alt, studiert Psychologie in Heidelberg und wird in diesem Jahr ihren Bachelor abschließen.
- Annika Reinhardt wohnt in Landau und arbeitet nebenbei als freie Mitarbeiterin bei einer Zeitung.
- Ihre Schreibmotivation: „Lesen und Schreiben begleiten mich seit meiner Kindheit. Besonders reizt es mich, mit Texten Denkanstöße zu geben und gesellschaftliche Fragen zu beleuchten. Umso mehr freue ich mich, erneut im Finale zu stehen.“
Plötzlich spürst du, wie etwas auf deiner Schulter landet. Erschrocken greifst du mit deiner freien Hand auf deine Schulter und spürst einen kleinen Stein. In diesem Moment dämmert dir, was vor sich geht. Blitzschnell blickst du nach oben und siehst die Gruppe von Frauen, die um die Statue stehen, und mit Hammer und Meißel auf sie einschlagen. Immer und immer wieder. Nun haben es auch andere Leute um dich herum bemerkt und beginnen laut zu rufen. Doch nichts und niemand kann die Frauen aufhalten. Zum ersten Mal in deinem Leben hast du das Gefühl, den wahren Wert und die tatsächliche Stellung der Frauen zu erkennen. Ohne sie würde das gesamte Getriebe verrosten und sie haben die Macht, die Maschine zum Stoppen und Einstürzen zu bringen. Ob den Männern das bis dahin klar war? Du fragst dich, wieso sie es nicht schon viel früher getan und stattdessen viele Jahre weiter dazu beigetragen haben, dass die Maschine in ihren Fugen bleibt. Aber jetzt ist klar: Die 2025. Drehung wird nicht vollendet werden. Mittlerweile sind die Rufe der anderen lauter geworden, manche fangen an zu schreien und zu toben. Wie die Zeit, sind die Frauen nicht aufzuhalten und du bist gespannt, wie euer wahrer Anführer aussieht. Was unter dem Gebilde aus Gold steckt und wen ihr all die Jahre angebetet habt. Ist es auch ein Mensch, der sich dahinter versteckt und die Maschinerie mitgeführt hat? Ist es eine gottesähnliche Gestalt, ein himmlisches Wesen? Du siehst es in den Augen deiner Mitmenschen, dass sie trotz der Bestürzung genauso gespannt sind, wie du, wen ihr all die Jahrtausende angebetet habt. Beinahe scheint es, als würdet ihr auf die Ankunft eines Erlösers warten. Die Risse in der Statue werden immer größer, sie beginnt bereits bedrohlich zu schaukeln, immer mehr Steine und Goldbrocken fallen neben euch zu Boden und trotzdem zieht ihr alle weiter an den Griffen, wollt die Maschine weiter in Gang halten. „Bringt euch in Sicherheit!“, schreit ein Mann ganz laut, doch keiner rührt sich, keiner will die Enthüllung verpassen, keiner möchte derjenige sein, der zurückzieht, wenn es ernst wird. In diesem Augenblick und mit einem letzten Hammerschlag bricht die goldene Männerfigur auseinander und darunter erscheint – ein Spiegel.
Und so steht ein jeder da, Mensch steht neben Mensch und betrachtet den Kern der Männerstatue, die all die Jahre so krampfhaft angebetet wurde. Vor Schreck, dein eigenes Gesicht im Spiegel zu sehen, bleibst du stehen und so tun es dir alle anderen gleich – bis auf einige wenige Männer, besonders einer mit unnatürlicher Gesichtsfarbe, versucht unermüdlich, die Maschine weiterzudrehen, doch vergeblich. Mit einem lauten Quietschen kommt das Gebilde langsam zum Stehen. Ihr dachtet immer, das Chaos und der Zusammensturz wären die Tragödie – doch sie bleibt aus. Nichts passiert, es ist vollkommene Stille. Keiner traut sich, einen Mucks von sich zu geben. Es ist nicht das Chaos, das zum Nachdenken anregt, sondern die Stille. Ein stilles Chaos. Erst in solchen Momenten versteht ein jeder, was er tut. Oder was ihr all die Jahre getan habt. Du dachtest, wenn ihr aufhört an dem Rad zu drehen, wird die gesamte Maschine zusammenstürzen und euch begraben. Doch stattdessen liegt etwas anderes in der Luft, so etwas wie ein – Neuanfang? Ihr schaut nach oben, seht über euch die Frauen neben dem Spiegel stehen – eure Blicke treffen sich. Erneut dämmert dir etwas. Langsam greifst du nach dem Griff, der in der Maschine steckt, den alle Generationen in der Hand hatten und ziehst energisch daran. Plötzlich löst sich der Griff mit einem Ruck und in der Hand hältst du: einen Hammer. „Wir hatten das Werkzeug all die Jahre in der Hand, jeder von uns, und haben es nicht einmal gemerkt“, sagst du etwas lauter, damit es alle um dich herum hören können. Und so steht ihr nun da, Mensch neben Mensch und keiner weiß, wie es weitergeht. All die Jahre habt ihr ein Idealbild angebetet, das nie existierte. Der Anführer, der die Maschinerie in Betrieb gehalten hat, war nie vorhanden.
Erzähl mir was, 6. Auflage
- Die Schlussrunde : Unter den rund 50 Geschichten, die Leserinnen und Leser zum Thema „Macht und Mensch“ eingereicht hatten, hat die Jury dieser Redaktion nun die ihrer Meinung nach zwölf besten für das Finale bestimmt. Sie finden sich in unserem Themenschwerpunkt "Erzähl mir was".
- Die Onlineabstimmung: Unsere Leserinnen und Leser können dann vom 27. August bis 5. September 2025 online abstimmen , wer die ersten sechs Plätze des Wettbewerbs belegt.
- Abstimmung unter: mannheimermorgen.de/erzaehlmirwas
Diejenigen, die die Struktur am Leben gehalten haben, wart: Ihr. Täter und Opfer verschwimmen für einen kurzen Moment und fast scheint es so, als wärt ihr eine graue Masse, keine Individuen mehr, sondern eine Masse, aus der es herauszustechen gilt. Eine Unmöglichkeit oder – eine Möglichkeit? Ihr wisst es nicht genau. Ihr wisst nur, dass ihr gemeinsam das Werkzeug in den Händen haltet, um etwas zu verändern, die Maschine so zu gestalten, wie ihr wollt. Es muss nur jemanden geben, der den Anfang macht. „Das ist ja nochmal gut gegangen“, vernimmst du in diesem Moment eine laute Stimme rechts von dir. Und dann erkennst du auch, worauf der Mann, der neben dir steht, hinauswill. Er deutet auf etwas, das vor der Maschine liegt: Es ist eine Schlucht. Eine riesige, alles verschlingende Schlucht. Ihr seid auf den Abgrund zugesteuert und habt es nicht einmal gemerkt. Ihr habt euch nicht nur im Kreis gedreht, sondern immer mehr nach rechts bewegt. Um ein Haar wären Maschine und ihr alle dort hineingestürzt. Vielleicht braucht es für den ersten Schritt gar nicht eine ganze Masse, die das Rad zum Stehen bringt. Vielleicht genügt am Anfang auch der Mut eines Einzelnen, loszulassen.
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