Erzähl mir was 2025 - Teil 12 und Abschluss

„MM“-Schreibwettbewerb Erzähl mir was: „Heimreise“

Zum Thema „Macht und Mensch“ erzählt Klaus Servene von der Hoffnung. Dabei geht es auch um die Amokfahrt in Mannheim und den tödlichen Messerangriff auf Rouven Laur.

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Klaus Servene
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Ganesha ist ein hinduistischer Gott, der für Weiheit und die Überwindung von Schwierigkeiten steht. © NovaVision - stock.adobe.com

Mannheim. Es gibt keinen mystischen Grund, aus dem das Böse entspringt. Es gibt nur den Menschen, dank dem es in die Welt tritt. (Dimitré Dinev, „Zeit der Mutigen“)

Der Mann, der seinen Namen lieber verschweigt, tritt in diesem Moment aus dem Portal des Hauptbahnhofs der Stadt, die er immer noch Heimatstadt nennt. Saugt nach gut zehn Jahren seiner Abwesenheit zum ersten Mal wieder ihren warmen Atem in seine Lungen. Atmet tief, er saugt, bis er satt ist. Blickt sich um, fühlt eine bedeutsame Erleichterung im ganzen Körper, aber auch Anspannung. Er hat ein Ziel, aber er hat es nicht eilig. Geht los, lässt seine Blicke umherschweifen. Zögerlich passiert er, jetzt die Augen zum Boden, jene Stellen in der Nähe des Paradeplatzes, wo im März 2025 ein Deutscher eine Amokfahrt mit zwei Toten und elf Verletzten der vierhundertachtzehnjährigen Stadtgeschichte hinzugefügt hat. Wie soll man solchen Wahnsinn erklären?, fragt er sich. Schwer genug, wenn nicht unmöglich, ihn komplex und zutreffend zu beschreiben. Schwer genug, sich zu erinnern. Weltweit, in ebenfalls unerklärlichen Abständen, diese Tiefschläge ins Herz der Menschlichkeit.

Schließt die Erzähl-mir-was-Auflage 2025 ab: Klaus Servene. © Larissa Dubjago

Am alten Marktplatz angekommen steht er nun, der Namenlose, in sich selbst wie in einen Abgrund versunken, besieht sich, noch schockiert von der Amokfahrt, Blumen und Kerzen und Gedenkinschrift und presst seine Hände fest ineinander, als wolle er sich so an seiner eigenen Existenz festhalten. Er mag den Namen des jungen Polizisten nicht laut lesen, nicht mal irgendwo aufschreiben, der ihn mitsamt der Horrorgeschichte vor gut einem Jahr erreicht hat. Und seither nicht mehr losgelassen. Da ist die Sache mit dem Respekt vor dem Toten und vor den Gefühlen seiner Angehörigen. Es gab viel Anteilnahme nach dem schwarzen Freitag, dem 31. Mai 2024. Für den im Dienst ermordeten Polizeihauptkommissar, der nur neunundzwanzig Jahre alt wurde, für die durch den Messerangriff Verletzten. Der Mörder war ein afghanischer Islamist. „Heute muss jemand sterben“, soll er gestanden haben. Der Richter und Henker in einem steht vor Gericht in einem Staat, den er verachtet.

Klaus Servene

  • 1949 in Marburg an der Lahn geboren machte Klaus Servene Abitur im Hunsrück, Nach einem Philologiestudium in Mainz und Marburg sowie BWL-Studienabschluss 1997 in Norddeutschland war er als Betriebswirt tätig.
  • Eine heftige Erkrankung führte 1995 zum Umbruch und zum Umzug 1997 nach Mannheim. Dort erschien 2000 der erste Roman. Seit 2017 lebt er in Hamburg.
  • 2001 initiierte Servene mit Inhaberin Monika Kürten in Mannheim den Andiamo-Verlag , in dem er bis 2017 mehr als 60 belletristische Büchern anderer Autorinnen und Autoren herausgab.
  • Schreibt selbst seit 1995 : Lyrik, Kurztexte, Theaterstücke, Erzählungen, Romane. Damit gewann er verschiedene Literaturpreise und Förderungen.
  • Servene schreibt ehrenamtlich für ein Stadtteilmagazin einer gemeinnützigen Stiftung in Hamburg-Barmbek und betreibt den Blog „Non-Profit-Literaturförderung“ (andiamo2020.blogspot.com).
  • Zur Schreibmotivation: „Schreiben heißt für mich humanistisch handeln, in unsicherer Zeit Gewissheiten hinterfragen, um menschlich Kurs halten und Gesicht wahren zu können. Literarisch schreiben ist wegweisend. Für den Anderen, und durch den Anderen für mich selbst.“

Was soll man da erklären, was glauben, was tun? Was ist gerecht? Was tröstet? Dass die Zeit alle Wunden heilt, glaubt der Namenlose nicht, so ein Satz ist sicher wie Hohn für die Nächsten. Schon eher glaubt er, dass der Zahn der Zeit das Leben aussaugt, mal langsam, mal schneller, und dass der Zahn Wunden und Narben und Leichname hinterlässt. Und denkt lautierend, manchmal kaum hörbar murmelnd vor sich hin: „Ich habe gute zwanzig Jahre in dieser Stadt gelebt, so intensiv, mit weit mehr Höhen als Tiefen, dass es allerdings die gefühlte bessere Hälfte meines Lebens war! Mittlerweile gehe ich auf die achtzig zu und bin so voller Narben und Erfahrungen, dass die Zeit mir rein gar nichts mehr anhaben kann. Was mich betrifft, sind ihr alle Zähne ausgefallen. Ausgebissen, Flasche leer hat sie, die Zeit, und nun knabbert sie zahnlos an mir rum, lutscht an meiner äußerlichen und inneren Verfassung und ist meiner Seele vollkommen egal. Diese ist im Lauf der Jahre nicht zerdrückt worden. Die Veitstänze der Brutalen aus dem Oberhaus der Menschheit und der aus der Sphäre der Regierten und Befehligten haben nur den energischen Widerstand bewirkt. Wenn mir die Zeit auch egal ist, die Menschen werden das niemals sein. Die toten nicht, die zeitgenössischen nicht, die noch gar nicht geborenen nicht! Man soll immer und überall Anteil an ihren Geschicken nehmen und zeigen. Leider klammern sich zu viele zeitgenössische Seelen an die falschen Rocksäume, in der irrigen Meinung davon zu profitieren. Für mich gilt trotz aller Ungeheuerlichkeiten: Hoffen und Glauben. Ich lebe. Ich lebe gerne. Immer noch und immer wieder. Da ist kein Wackeln und kein Schwanken in meinem Kopf.“

Der Namenlose schaut auf die Kirchturmuhr. Viertel vor Zwölf. Auf dem großen Zeiger sitzt eine Taube und stemmt sich gegen die Geschichte. Das Gewimmel auf dem Platz und an der Haltestelle versetzt ihn in leichte Trance, das ganze Gewimmel – nur eine Frage der Zeit. Die größte Gefahr für die Menschheit sei die Menschheit selbst, hatte Stephen Hawking behauptet. Der britische Astrophysiker, Mitglied der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, hatte als ein Fazit seiner Forschung verkündet, dass es bedauernswerterweise leider keinerlei Gott geben würde. Die Menschen müssten sich schon selbst helfen im Überlebenskampf.

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Ein alter Mann, der jetzt direkt neben ihm steht, ist ihm schon vor Jahren aufgefallen im Stadtbild: Eine imposante Erscheinung mit immer noch wachen Augen und einem Gehstock in der Hand, ein Mann von prophetischem Aussehen, gekleidet in weite Hosen, in einen weit herabfallenden Umhang, mit einem grünfarbenen Turban, einem langen schwarzen Vollbart, durch den sich silberne Strähnen ziehen.

„Schön, dass es gute Menschen gibt!“, sagt der Prophet unvermittelt und akzentfrei, auf das Foto vom ermordeten Polizisten zeigend. Seine Worte sind laut und deutlich im Lärm vernehmbar. Der Namenlose nickt bloß. Der Prophet fährt fort. Gegen eine unmenschliche Macht scheine der Mensch machtlos zu sein. Wenn dich einer töten will, der seine ganz eigenen Begründungen oder Instinkte hat, so etwas zu tun, im Alltag, in der Öffentlichkeit, dann kannst du dich nur selbst wehren, oder schützen, selbst davonkommen. Wieder nickt der Namenlose und wendet sich ab. Betritt schweigend die St. Sebastian-Kirche, greift in das Weihwasserbecken und bekreuzigt sich mit Blick auf den Hauptaltar. Vor der Marienikone entzündet er mehrere Kerzen. Hier hatte er oft gekniet, Kraft geschöpft und zuweilen Botschaften hinterlassen. Heute hat er einen kleinen Stapel Flugblätter dabei, den er zum Mitnehmen im Regal neben der Ikone deponiert:

„Es wird ein Tag kommen ... ein Tag, an dem die Kraft des Miteinanders auf der ganzen Welt triumphiert ... es wird ein Tag kommen, an dem sich die Menschen ihrer Sinne bedienen, um diese Welt freier und vernünftiger zu machen ... es wird ein Tag kommen, an dem die Menschen offener und ehrlicher sein werden ... mit überlieferten und neuen Doktrinen aufräumen ... mit der Macht des Geldes brechen ... völlig neu denken werden! An diesem Tag werden die Menschen mit der Unkultur Schluss gemacht haben! Sie werden leichten und offenen Herzens sagen können, von Mensch zu Mensch: Wir sind doch Geschwister unter einer Sonne, unter einer einzigen Sonne! Verzeih mir Bruder, verzeih mir Schwester, denn ich habe euch bisher nicht als Mitmenschen erkannt! Ich habe die Welt als Objekt betrachtet, mich nicht als ein Teilchen von ihr gesehen, als Marienkäfer im Hochgebirge. Aber jetzt – jetzt hat sich alles geändert, alles! Ich habe euch lieb, bleibt locker, wir schaffen es zusammen, Kopf hoch! – Es wird der Tag kommen, an dem wir alle frei sind, wir selbst zu sein! Es wird der Tag kommen! Es wird nicht immer so sein!“

Erzähl mir was, 6. Auflage

  • Die Schlussrunde : Unter den rund 50 Geschichten, die Leserinnen und Leser zum Thema „Macht und Mensch“ eingereicht hatten, hat die Jury dieser Redaktion nun die ihrer Meinung nach zwölf besten für das Finale bestimmt. Sie finden sich in unserem Themenschwerpunkt "Erzähl mir was".
  • Die Onlineabstimmung: Unsere Leserinnen und Leser können vom 27. August bis 5. September 2025 online abstimmen , wer die ersten sechs Plätze des Wettbewerbs belegt.
  • Abstimmung unter: mannheimermorgen.de/erzaehlmirwas

Für die wenigen Kirchenbesucher ein unscheinbarer Unbekannter, betet der Namenlose jetzt und hier. Spricht – für andere Menschen unhörbar – christliche Texte für den Polizisten und die anderen Terroropfer. Nach reichlich vielen atheistischen Jahren ist er längst wieder gefangen im Volksglauben seiner Großmutter. Er betet auch mit eigenen Worten. „Ich glaube an die Macht der Wahrheit“, bekennt er. „Ich glaube an die Freiheit des Menschen; sie wird verwirklicht werden. Ich glaube an den Sinn der Evolution, an den Sinn des Lebens, wenn ich auch nicht weiß, ab welchem Zeitpunkt die Angst existiert, die Angst vor dem Gefressenwerden. Ich will überall und unter allen Umständen für die Würde des Menschen und aller Kreatur eintreten.“

Nach gut sechzig Minuten, seine Knie schmerzen, erhebt er sich, verlässt die Kirche, blinzelt in die Sonne und schlendert etwas gebückt zum Bahnhof zurück. Und fährt die sechshundert Kilometer in einem Stück gen Norden, nach Hause. Außer mit Gott, Jahwe und Allah, also alles in allem mit dem einen Gott, hat er an diesem Tag mit niemandem auch nur ein Wort gewechselt.

Am nächsten Morgen notiert er: „Lieber Stephen, bis selbst die schwarzen Löcher verdampft sind ist es noch unvorstellbar lange hin. Ich lebe heute und ich lebe in einer neuen, anderen Eiszeit. Die Menschenwürde scheint einzufrieren während das Klima sich erwärmt. Das ewige Eis schmilzt in der Natur und breitet sich dafür politisch und soziologisch in der Welt aus. Zwischen Lärm und Leere, zwischen Brutalität und Empfindlichkeit, zwischen Atemlosigkeit und Stillstand ist es aber auch die Zeit der Selbstverteidigung. Die Kraft dafür schläft und träumt noch in den Seelen. Aber sie existiert. Dafür beispielhaft stehen die Menschen, die beide Mörder 2024 und 2025 gestoppt haben.“

Mit einem versöhnlichen Funkeln im Herzen schließt der Namenlose die Kladde, deren Umschlag ein Bild des indischen Gottes Ganesha zeigt.

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