Erzähl mir was 2025 - Teil 11

„MM“-Schreibwettbewerb Erzähl mir was: Besser ohne ihn

Andreas Salewski wurde vom Thema „Macht und Mensch“ zu einer Geschichte über eine triste Vater-Sohn-Beziehung inspiriert, die aber trotzdem Hoffnung macht.

Von 
Andreas Salewski
Lesedauer: 
In der Geschichte trifft der Protagonist an einem Bahnhof auf seinen Vater. Das lässt alte Wunden aufbrechen. © Getty Images baona

Obwohl die Bahnhofshalle von Reisenden wimmelte, erkannte Tim ihn in dem Durcheinander sofort. Und erstarrte. Kein Zweifel, er war es. Derselbe Gang, dieselbe selbstgefällige, rücksichtslose Art, sich durch die Menschenmenge zu schieben. Er schien kaum verändert, fast so, als habe die Zeit ihn verschont. Ja, das Gesicht wirkte etwas faltiger, doch das dünne Haar war immer noch mit militärischer Präzision zum Seitenscheitel gebürstet, die Anzughose fiel so makellos, dass sie einem Statement gleichkam.

Wenn er jetzt nicht hinsah, ging vielleicht alles gut. Tim wandte sich also ab, taumelte durch das Gedränge, zwischen Reisenden und Koffern hindurch, lief weg vor den Erinnerungen, die ihn schlagartig einholten, vor der omnipräsenten Macht dieses Mannes, der für ihn nie ein Vater war, eher der Feldherr seiner Kindheit. Hastig steuerte er auf den Bahnsteig zu, an dem sein Zug schon bereitstand.

Er stieg in den ersten Wagen, blieb im Gang stehen und atmete erleichtert durch. Dann zog er seinen Rollkoffer weiter, suchte seinen reservierten Platz und ließ sich erschöpft nieder. Ihm wurde klar, wie sehr er gehofft hatte, Vater nie wiederzusehen. Gleichzeitig ärgerte er sich, dass sein plötzlicher Anblick ihn so aus der Fassung brachte – als habe dieses Urbild von Macht und Unterdrückung ihn immer noch im Griff. Er schaute sich um und es schien ihm, als würden die anderen Fahrgäste ihn, der seinen Vater aus seinem Leben verbannt hatte, argwöhnisch mustern. Wie ein kleines Kind schloss er die Augen, damit die anderen ihn nicht sehen konnten.

Die Stimme aus den Lautsprechern, die ankündigte, dass sich die Abfahrt des Zuges um wenige Minuten verspäten würde, brachte ihn zurück in die Wirklichkeit. Er blickte aus dem Fenster und erschrak erneut. Draußen lief Vater vorbei, sein gemessener Schritt erinnerte an einen Staatsakt. Ob er jemanden am Bahnsteig abholte? Als sich wenig später die automatische Glastür seines Waggons öffnete, wusste Tim die Antwort. Vater kam herein und setzte sich auf den nächsten freien Platz nur wenige Reihen vor ihm. Um nicht entdeckt zu werden, duckte er sich hinter die Lehne des Vordersitzes und schloss erneut die Augen. Die Erinnerung trug ihn fort in eine Zeit, in der noch nichts geschehen war. In der er ein kleiner Junge war, ohne Schuld und unversehrt. Bis dieser Mann dort vorne ihm diese Wunden zugefügt hatte, die in diesem Moment, wieder aufrissen.

Andreas Salewski

  • Andreas Salewski ist das Pseudonym (und der Geburtsname) von Andreas Haller. Unter diesem Namen veröffentlicht er viele seiner literarischen Texte.
  • Er wurde 1965 in Mannheim geboren , wo er nach einigen Jahren im Ruhrgebiet auch heute wieder lebt. Nach einem Studium der Geschichtswissenschaften arbeitet er seit rund 30 Jahren in verschiedenen Funktionen im Bildungsbereich.
  • Motivation zum Schreiben: Schon immer war er neugierig und auf der Suche nach Geheimnissen, Rätseln und Verborgenem – eine Haltung, die sich in seinen Geschichten widerspiegelt.

Jenes Mal, als Tim voller Stolz sein erstes Schulzeugnis präsentierte: eine Eins, sonst nur Zweien. Tim hüpfte erwartungsvoll auf der Stelle, die Welt lag ihm zu Füßen. Doch Vater nahm das Blatt wortlos entgegen, blickte nur kurz darauf und sagte regungslos: „Könnte besser sein.“

Ein Satz, der wie ein Gerichtsurteil klang. Tim lernte früh, dass in Vaters Reich nur Perfektion zählte. Jedes Lob war eine Illusion, jeder Applaus nur eine Vorahnung der Enttäuschung, die folgte, wenn nicht jedes Detail makellos war.

Immerhin, für die Eins durfte er sich ein Buch aus Vaters Karl-May-Sammlung aussuchen. Er wählte „Winnetou“.

Autor Andreas Salewski hat unter seinem aktuellen Namen Andreas Haller bereits 2023 das Finale von Erzähl mir was gewonnen. © C. Haller

Dann war da der Keller. Mit acht Jahren stand er dort zum ersten Mal nackt von der Hüfte abwärts vor dem Mann, der sein Schöpfer war und den Stock hielt wie ein Richter den Hammer, und Tim wusste, dass er keinen Freispruch erwarten durfte. Bei jedem Schlag zuckte Tims Körper, doch Vater machte ungerührt weiter.

Bei dem Gedanken daran zog sich sein Magen krampfhaft zusammen.

„Weißt du noch, wie du mein Schreien und Flehen, endlich aufzuhören, kommentiert hast?“, fragte er in Gedanken den Mann wenige Sitzreihen vor ihm.

„Es tut mir genauso weh wie dir selbst“, sagte Vater damals zu ihm und seine Stimme war so sicher, als wusste er, dass Schmerz die Währung des Gehorsams war. Und lange Zeit hatte Tim dies sogar geglaubt. Dabei war es ein perfides Meisterstück von Macht.

Oft flüchtete Tim in Winnetous Abenteuerwelt, tauchte ein in ferne Welten, suchte Trost in der Illusion von Gerechtigkeit und Freundschaft – eine Gegenwelt zur Tyrannei des eigenen Vaters – um sein tristes Zuhause für einige Stunden zu vergessen. Doch manchmal funktionierte selbst das nicht.

Besonders jener Nachmittag, drei Jahre später, veränderte alles. An diesem Tag kam er nach der Schule nach Hause und fand Mutter schlafend auf dem Sofa. Er versuchte sie zu wecken, doch sie reagierte nicht. Als er die leeren Tablettenschachteln neben dem Wasserglas entdeckte, ahnte er Schreckliches. Er wusste bis heute nicht wie, aber es gelang ihm, seine Schockstarre zu überwinden und die Notfallnummer anzurufen.

„Mama schläft und ich kann sie nicht aufwecken“, sagte er ins Telefon.

Wenig später trafen die Rettungskräfte ein. Während sie Mutter ins Krankenhaus brachten, durfte Tim auf dem Beifahrersitz des Wagens mitfahren. Die ganze Fahrt über klammerte er sich an die Hoffnung, dass Vater im Krankenhaus auftauchen und ihn in den Arm nehmen würde, tröstend, schützend – dass endlich jemand da wäre, der alles wiedergutmachte.

Doch statt ihm kamen Oma und Tante Gerda, um ihn abzuholen.

Mehr zum Thema

„MM“-Schreibwettbewerb

Diese zwölf Geschichten stehen im Finale von „Erzähl mir was“

Veröffentlicht
Von
Jörg-Peter Klotz
Mehr erfahren
Erzähl mir was 2025 - Teil 10

„MM“-Schreibwettbewerb „Erzähl mir was“: „Müllers Wette“

Veröffentlicht
Von
Regina Rothengast
Mehr erfahren
Schreibwettberweb

„Mannheimer Morgen“-Schreibwettbewerb „Erzähl mir was“ geht in nächste Runde

Veröffentlicht
Von
Stefan M. Dettlinger
Mehr erfahren

Tim spähte durch den schmalen Spalt zwischen den Rückenlehnen der Sitze nach seinem Vater, der ein Buch las. – so gleichmütig wie ein Potentat, der seine Macht in unerschütterlicher Ruhe zelebriert.

„Wo warst du an dem Tag?“, hatte Tim ihn viele Jahre später oft gefragt. „Ich hätte dich gebraucht.“

Vater legte das Buch auf seinen Schoß und lehnte sich zurück.

„Du weißt doch, ich war auf Geschäftsreise, du solltest es einmal besser haben als ich“, antwortete er jedes Mal im Brustton der Überzeugung, das Richtige getan zu haben. Diese Antwort wirkte wie eine unantastbare Legitimation und war doch nur die immer gleiche Leier, immer dieselbe Abwehrhaltung, dachte Tim zornig.

Vater widmete sich wieder seinem Buch.

Weil Mutter nun nicht da war, wohnte Tim einige Zeit bei Oma und Tante Gerda, die sich um ihn kümmerten. Von Vater keine Spur.

„Wann kommt Mama wieder?“, fragte er mit zitternder Stimme.

„Sie ist jetzt im Krankenhaus, bald wird sie wieder gesund sein“, sagte Gerda.

Tim glaubte ihr, konnte das dumpfe Pochen in seiner Brust aber nicht abschütteln. Warum klang ihre Stimme so gedämpft? Und warum sprachen Oma und Tante Gerda manchmal im Flüsterton, wenn sie dachten, er hörte es nicht?

Erst Jahre später, er war schon fast erwachsen, erfuhr er, dass sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden war.

Wie gelähmt schlich er durch die Wohnung. Selbst beim Spielen mit seinen Cousinen drifteten seine Gedanken immer wieder zu den Geschehnissen der letzten Tage, die ihn so verloren zurückgelassen hatten. Er fühlte sich hilflos und zugleich schuldig für das, was mit Mutter geschehen war. Er wusste nicht mehr ein noch aus – schließlich lief er weg. In dem kleinen Rucksack auf seinen Schultern war eine Flasche Wasser, ein Apfel und natürlich der Winnetou-Band. Weil er aber erst elf war, schaffte er es nur bis zur nächsten Bushaltestelle. Dort verließ ihn der Mut. Er setzte sich auf eine Bank, wo ihn Gerda kurz darauf fand.

Am nächsten Morgen stand Vater vor der Tür, um ihn abzuholen. Doch Tim sträubte sich. Er wollte nicht mit diesem Mann gehen, der Mutter und ihn im Stich gelassen hatte.

„Du kommst jetzt mit. Verstanden?“, sagte Vater streng.

Tim schluckte seine Widerworte herunter, er wusste, dass er jetzt besser den Mund halten sollte. Dennoch rührte er sich nicht vom Fleck, blieb trotzig auf seinem Stuhl sitzen und schüttelte unmerklich den Kopf. Schließlich packte Vater ihn grob am Arm, zerrte ihn durch das Treppenhaus und stieß ihn auf den Rücksitz seines Wagens. Wortlos und Tims Schreien ignorierend, schloss er die Tür und sperrte den Wagen ab.

Erzähl mir was, 6. Auflage

  • Die Schlussrunde : Unter den rund 50 Geschichten, die Leserinnen und Leser zum Thema „Macht und Mensch“ eingereicht hatten, hat die Jury dieser Redaktion nun die ihrer Meinung nach zwölf besten für das Finale bestimmt. Sie finden sich in unserem Themenschwerpunkt "Erzähl mir was".
  • Die Onlineabstimmung: Unsere Leserinnen und Leser können dann vom 27. August bis 5. September 2025 online abstimmen , wer die ersten sechs Plätze des Wettbewerbs belegt.
  • Abstimmung unter: mannheimermorgen.de/erzaehlmirwas

Das Gefühl von Schuld und Hilflosigkeit begleitete ihn noch viele Jahre. Heute wusste er, dass er nichts hätte verhindern können, er war elf, zu jung, um irgendetwas zu tun. Mutter konnte damals nicht anders, Vater aber hätte ihr und ihm beistehen müssen. Stattdessen hatte er ihn gedemütigt, ihm wehgetan und auch später, als Tim längst erwachsen war, wich er seinen Fragen aus. Seine Erklärungen wirkten wie leere Parolen, seine Zuneigung war wie eh und je an Bedingungen geknüpft. Schließlich, ohne Antworten und mit seinem Schmerz allein, brach Tim den Kontakt ab.

„Und so hätte es auch bleiben können“, dachte Tim, als der Zugchef seinen Zielort ankündigte. Er stand auf und nahm seinen Koffer. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, dem Mann, der sein Vater war, seine Wut ins Gesicht zu schreien. Doch er riss sich zusammen – es hätte ohnehin keinen Sinn. Stattdessen wandte er sich ab und verließ den Waggon durch die sich automatisch öffnende Glastür.

„Besser ohne ihn. Alles ist besser ohne ihn. Manchmal kommt die Wahrheit eben schäbig daher“, dachte Tim, als er kurz darauf aus dem Zug stieg.

Eine warme Sommerbrise empfing ihn, leicht und freundlich, fast wie ein Versprechen.

„Vielleicht wird es nie ganz gut. Aber vielleicht – wird es leichter.“

Er lächelte und ging langsam weiter, den Rollkoffer hinter sich herziehend.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen