FN-Interview mit dem Chef der Elite-Referees

Videobeweis: Schiri-Chef Knut Kircher kann sich Trainer-Challenge vorstellen

Knut Kircher, Geschäftsführer Sport und Kommunikation der DFB Schiri GmbH, plädiert dafür, trotz VAR den „Souverän auf dem Platz wieder mehr zu stärken“

Von 
Klaus T. Mende und Michael Fürst
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Knut Kircher, seit 1. Juli Geschäftsführer Sport und Kommunikation der DFB Schiri GmbH, nimmt kein Blatt vor dem Mund. Er vertritt die Auffassung, dass der VAR „Fehlentscheidungen verhindert hat, aber auch andere Probleme gebracht hat“, wie er im FN-Exklusiv-Interview betont.

Herr Kircher, hat der VAR den Fußball insgesamt gerechter gemacht?

Knut Kircher: Der VAR hat dazu beigetragen, dass viele Fehlentscheidungen nicht zustande kamen, weil sie teils revidiert wurden. Ob dies gerecht oder ungerecht ist, will ich nicht beurteilen. Denn dies würde dazu beitragen, das Spiel mit Hilfe des VAR in Schwarz und Weiß einzuteilen. Dazwischen gibt es aber noch einen großen Graubereich, den Ermessensspielraum, der Auslegungssache für den Schiedsrichter und somit diskutable Masse für die Fußballbegeisterten ist. Der VAR hat Fehlentscheidungen verhindert, aber auch andere Probleme gebracht.

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Von
Nicola Beier
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Welche denn?

Kircher: Zum Einen, dass sich jetzt manche Referees zu sehr auf den VAR verlassen, sie in einigen Situationen nochmals auf den Monitor schauen müssen, weil manch einer dies fordert, was ohne den Videobeweis höchstens zu einer kurzen Diskussion geführt hätte. Dies ist das Eine.

Und das andere?

Kircher: Solch ein Check nimmt Zeit von der Uhr. Zwar geht dies nicht zulasten der Nettospielzeit, denn sie wird nachgespielt. Aber die Zuschauer können sich nach einem Tor nicht gleich freuen, wenn es eine knappe Geschichte ist – sie müssen warten. Notfalls jubeln sie ein zweites Mal – oder sie müssen den Jubel revidieren. Es reicht von Himmel hoch jauchzend bis zu Tode betrübt, was die Stimmung angeht. Oder aber das Ganze dauert gefühlt recht lange. Die Zeit für so einen Check summiert sich im Schnitt auf etwa 105 Sekunden – eine gefühlte Ewigkeit.

Deshalb gilt . . .

Kircher: . . . immer, wenn etwas Neues eingeführt wird, bringt dies zwar Positives mit sich, aber auch Dinge, die nicht akzeptiert werden und Emotionen schüren.

Welche konkreten Vorschläge haben Sie, um den Videobeweis weiter zu optimieren?

Kircher: Das gibt es einige. Ich bin angetreten mit der Maxime „Schafft weniger Intervention“. Hier sind wir auf einem guten Weg, wie die Statistik zeigt. Das hat vielschichtige Gründe – nicht nur, weil versucht wird, die Entscheidungsschwelle anzuheben, um alles im Zusammenhang mit klar und offensichtlich künftig gröber zu gestalten. Das Wembley-Tor oder die „Hand Gottes“ sind solche offensichtliche Dinge, die man nach Auffassung der Fußballwelt so nicht hätte stehen lassen dürfen. Trotz VAR muss es das Ziel sein, dem Schiedsrichter auf dem Feld wieder die Kompetenz zurückzugeben, damit er erkennt, was das Beste für das Spiel ist und er aus dem Moment heraus entscheidet. Es geht also Richtung klar und offensichtlich – da wollen wir hinkommen.

Es gibt aber auch jene Strömungen, die dafür plädieren, den VAR abzuschaffen. Was sagen Sie dazu?

Kircher: Das liegt nicht in unserer Hand als Schiedsrichter, sondern in jener der DFL, also der 36 Proficlubs. Wenn sie sagen, der VAR kommt weg, gibt es ihn nicht mehr und die Schiedsrichter auf dem Feld pfeifen nach ihrer realen Wahrnehmung, begleitet von jener der Assistenten und des vierten Offiziellen.

Wie stehen Sie zur Trainer-Challenge?

Kircher: Hier wäre ausschließlich der Trainer derjenige, der intervenvieren darf. Dabei stellt sich die Frage: Gibt es die Trainer-Challenge ohne VAR oder wird er für rein faktische Dinge wie Tor- und Abseitscheck beibehalten und durch die Challenge erweitert? Hierbei gibt es verschiedene Kombinationsmöglichkeiten, die von der Fifa zunächst einmal für die Profiligen zugelassen werden müssten. Danach muss sich die Profiliga mit ihren Vereinen austauschen, ob und wie das bewerkstelligt wird. Nach vorn gerichtet ist der Weg derzeit noch offen.

Wie sieht man das Ganze seitens der Unparteiischen?

Kircher: Wieso sollten wir als Schiedsrichter dagegen sein? Ich bin zunächst einmal offen dafür, schon allein wegen meiner technischen Affinität. Wenn man uns das Vertrauen schenkt, mit etwas Neuem umzugehen, versuchen wir, in Absprache mit allen Beteiligten, das Beste daraus zu machen.

Wäre die Challenge-Version des VAR nicht das Logische, weil die Verantwortung, wann der Schiedsrichter eingeschaltet wird, dem Trainer übertragen wird?

Kircher: Der Trainer wäre in der Tat erst einmal in der Verantwortung, wenn man es so machen würde, dass er es ist, der Einspruch erhebt. Die Clubs würden sich darauf einstellen. Denn sie würden sich Personen holen, die eine gewisse Expertise haben und schnellstmöglich Bilder sichten könnten, um zu sagen „jetzt Einspruch, jetzt kein Einspruch“. Der Trainer würde die Verantwortung wieder ein Stück weit verlagern, damit er diesen Input bekommt. Ich weiß nicht, wie kreativ da die Clubs wären. Vielleicht fällt neben dem Challengesystem jemand wieder was ganz anderes ein. Oder wir reden darüber, wie viele Challenges der Trainer in einem Spiel nehmen darf. Die letztendliche Entscheidung trifft jedoch auch bei einer möglichen Challenge-Variante der Schiedsrichter auf dem Feld.

Es gibt andere Sportarten wie Handball, Eishockey oder Basketball, in denen diese Challenge erfolgreich zum Einsatz kommt – auch wenn ab und an mal geschimpft wird.

Kircher: Ich bin da völlig emotionslos. Ich male mir das derzeit aus: Was könnte passieren? Da kommen dann sicher Emotionen hoch – und es ist schön, dass es sie gibt. Das müsste der Schiedsrichter auf dem Feld aushalten. Ich denke, es lohnt sich, so etwas mal auszuprobieren. Doch die Eintrittskarte dafür vergeben nicht wir, sondern Fifa, Ifab und DFL.

Konkret gefragt: Sie wären in der Ifab und hätten dort einen Vorschlag frei zur Optimierung des VAR, der diskutabel ist – welcher wäre das?

Kircher: Ich würde die Trainer-Challenge durchaus mal ausprobieren. Denn ich kriege nur Erkenntnisse, wenn ich das tue, sonst wird immer nur nebulös Für und Wider diskutiert. Wir sind sehr interessiert an den Erkenntnissen, die bei der U20-Frauen-WM und der U17-Juniorinnen-WM gewonnen wurden. Fifa und Ifab halten sich da gegenwärtig noch bedeckt. Und wenn sich jetzt auch noch eine Dritte Liga dafür ausspricht, dies eine ganze Saison ausprobieren zu wollen, sind wir Schiedsrichter die letzten, die sagen, das machen wir nicht. Dann schulen wir unsere Referees, was etwas Vorlauf benötigt, denn die Vereine haben Anspruch darauf, dass dies von Beginn an richtig funktioniert.

Eine Entbürokratisierung des Regelwerks würde dem VAR insgesamt zugutekommen. Wo würden Sie Hand anlegen, Selbiges aus Schiedsrichterperspektive zu vereinfachen?

Kircher: Der Fußball hat sich entwickelt, ist viel dynamischer geworden, teilweise auch etwas komplizierter durch manche Regelneuerungen. Alle jene, die an diesen Regeln arbeiten, machen sich immer Gedanken im Sinne des Fußballs. Manchmal ändern sie das Regelwerk und denken, sie tun Gutes, um später zu der Erkenntnis zu gelangen, es ist nicht einfacher geworden. Hierbei gibt es auch immer Beteiligte, die nicht nur den positiven Weg sehen, sondern ein Schlupfloch finden, um Dinge für sich auszunutzen, die dem Fußball nicht zuträglich sind.

Und was wollen Sie angehen?

Kircher: Ich würde zum Einen das Handspiel vereinfachen. Denn es ist wichtig allen erklären zu können, dies sind jene Regeln, nach denen wir spielen und die für jeden am Spiel Beteiligten am einfachsten umzusetzen sind. Das Wie fehlt aber derzeit noch – und das fällt mir auch spontan nicht ein. Wenn Fifa und Ifab eine Idee haben, das Ganze zu vereinfachen, werden wir es umsetzen. Manches, auch in anderen Bereichen auf dem Platz, wird im Amateurbereich schon ausprobiert. Dies ist noch nicht freigegeben für den Profisektor. Doch das sollte probiert werden – wie kommt es an? Nur so kriegt man eine Rückmeldung.

Hätten Sie das Handspiel der Spanier im EM-Viertelfinale als Elfmeter gepfiffen?

Kircher: In Betrachtung der Bilder war das für mich ein strafbares Handspiel.

Die Lösung dieser Handspielregel wäre „Hand ist Hand“ – sie wird aber jedes Jahr unklarer.

Kircher: Das ist wie das deutsche Steuerrecht: Eigentlich will man es auf dem Bierdeckel geklärt haben. Aber aus dem Bierdeckel ist eine Schrankwand geworden – mit ganz vielen Fächern und zahlreichen Ausnahmeregelungen. Man verliert sich in der Komplexität, anstatt wieder auf den Weg zurückzufinden. Das sollte auch das Ziel beim VAR im Zusammenhang mit dem Handspiel der Fall sein. Fifa und Ifab müssen vorgeben, wir sind nur die Umsetzer. Ein Richter macht auch nicht das Gesetz, sondern versucht, es in seinem Interpretationsspielraum umzusetzen.

Wie beurteilen Sie die teilweise äußerst kritischen Expertenauftritte von Manuel Gräfe im TV?

Kircher: Das ist ein etwas schwieriges Thema aufgrund dessen, weil noch ein Prozess bevorsteht. Ich schätze Manuel Gräfe aufgrund seiner Leistungen, die er als Schiedsrichter erbracht hat. National wie international hat er exzellent gepfiffen – Chapeau dafür. In seiner Rolle als Experte äußert er sich zu Leistungen von Unparteiischen. Das ist legitim, wenn das Ganze in einer Fachlichkeit mündet. Ich habe nur ein Problem damit, wenn es ins Persönliche geht. Dies gefällt mir nicht in meiner Eigenschaft als Geschäftsführer Sport und Kommunikation der DFB Schiri GmbH. Deswegen stelle ich mich auch vor diese Schiedsrichter, wenn sie persönlich angegangen werden.

Die Schiedsrichter sind die Spielleiter, deren Entscheidungsfähigkeit ganz vorn stehen muss – ohne Netz und doppelten Boden. Leidet derzeit nicht Ihre Souveränität?

Kircher: Das Bild mit dem doppelten Boden gefällt mir. Ich würde mir einen souveränen Schiedsrichter vorstellen, der auf seine Aufgabe voll fokussiert ist – wie ein Hochseilartist, der jeden Tag eine Vorstellung gibt, vor ausverkauftem Haus, mit maximalem Schwierigkeitsgrad auf einem dünnen Drahtseil – und das ansonsten in schlafwandlerischer Sicherheit beherrscht. Jetzt kommt einer mit dem Öllappen und sorgt für eine glitschige Stelle mit der Folge, dass er abrutscht, vom Seil fällt und froh ist, dass es dieses Netz gibt, das ihn auffängt. Wenn ein Schiedsrichter mit der Einstellung des Hochseilartisten agiert, ist das super. Wenn er jedoch herangeht mit der Auffassung „Ich muss nicht trainieren, weil es da unten das Netz gibt und die Leute klatschen sogar dann, wenn ich während der Vorstellung zehnmal runterfalle“, hat er die falsche Einstellung. Es darf nicht sein, dass nach Einführung des VAR die Referees jene Souveränität, mit der sie zuvor Spiele geleitet haben, an der Garderobe abgeben und zu dem Schluss kommen, „ich entscheide jetzt mal nicht“. Denn wenn es falsch war, meldet sich ohnehin der VAR aus Köln. Es gilt darüber hinaus – auch mit dem VAR –, den Souverän auf dem Platz wieder zu stärken, damit er sich Akzeptanz erarbeitet, auch im Graubereich, den das Regelwerk zulässt.

Sie haben demnach diese Entwicklung schon wahrgenommen, wonach man sich mehr auf den VAR verlässt?

Kircher: Lassen wir mal den VAR außen vor. Die nächste Einheit, die es zu betrachten gilt: Leitet der Schiedsrichter das Spiel oder tun dies seine zwei Assistenten? Dann kam das Headset dazu – gleichermaßen Fluch und Segen. Segen, weil Dinge, die abseits im Rücken des Schiedsrichters passiert sind, bestraft werden konnten, nachdem sie der Assistent mitbekommen hat. Und Fluch, denn auf einmal bemüßigen sich Assistenten von außen, Situationen aus 60, 70 Metern Entfernung mit zu beurteilen. Wer leitet jetzt das Spiel? Um das Tun des Schiedsrichters als Souverän auf dem Platz zu stärken, muss auch diese Kommunikation auf das Minimalste und Notwendigste beschränkt sein.

Redaktion Mitglied der Main-Tauber-Kreis-Redaktion mit Schwerpunkt Igersheim und Assamstadt

Ressortleitung Reporterchef und Leiter der Sportredaktion

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