Main-Tauber-Kreis. Die ausufernde Bürokratie belastet Bürger, Städte und Unternehmen, genauso wie die Inflation und die Energiekrise. Darüber und über Erneuerbare Energien, die Flüchtlingssituation und den Fachkräftemangel sprachen Chefredakteur Fabian Greulich und der stellvertretende Reporter-Chef Sascha Bickel mit dem Landtagsabgeordneten und Landtagsvizepräsidenten Wolfgang Reinhart (CDU).
Firmen, Kommunen, Verbände und Bürger klagen alle über zu viel Bürokratie in unserem Land. Wie schätzen Sie die Belastungen ein?
Wolfgang Reinhart: Wir sind eine Region der Weltmarktführer. Baden-Württemberg ist zudem noch die Innovationsregion Nummer 1 in Europa. Um das allerdings auch künftig zu bleiben und unsere Standortattrativität zu erhalten, muss die Entbürokratisierung beherzt angegangen werden. Auch die hohen Energiekosten und der Fachkräftemangel sind bei den Standortfaktoren als Problembereiche zu nennen, die dringend einer Lösung bedürfen.
Welchen Weg zum Bürokratieabbau würden Sie beschreiten?
Reinhart: Als langjähriger Winzer beschreibe ich es bildlich. Der Bürokratieabbau muss mit der Rebschere und nicht mit der Heckenschere stattfinden. Warum mit der Rebschere? Der Winzer geht jetzt im Frühjahr in den Weinberg und schneidet die 60 Triebe am Rebstock zurück auf nur noch zwei Fruchtruten, damit Licht, Luft und Sonne an diese kommen und Wachstum möglich wird. Die Heckenschere hingegen setzt nur außen an und nimmt dort alles weg, aber innen drin wird die Hecke immer verworrener, dichter und undurchdringlicher – das ist dann genau der falsche Weg auch beim Abbau von Bürokratie.
Sie haben den Koalitionsvertrag der grün-schwarzen Landesregierung mit unterschrieben. Da geht es auch um Bürokratieabbau. Wie gelingt dieser auf Landesebene?
Reinhart: Ja, der Koalitionsvertrag trägt meine Unterschrift. Es ist beschlossen, den Bürokratieabbau anzugehen, nach dem Prinzip: One in, one out. Ein neues Gesetz kommt, dafür muss ein anderes rausfliegen. Ich denke, Abgeordnete sollten sich nicht nur daran messen, wie viele neue Gesetze sie erlassen haben, sondern auch, wie viele sie abgeschafft haben. Um es klar zu sagen: Es gibt hier noch sehr viel zu tun! Mit dem Umfang des bislang geleisteten Bürokratieabbaus in Baden-Württemberg bin ich unzufrieden.
Wo sollte zügig angepackt werden?
Reinhart: Gastronomie und Wohnungsbau, der Mittelstand, ja, die Wirtschaft insgesamt – sie alle brauchen Freiheiten, um aufblühen zu können. Es müssen Standards abgebaut werden, zum Beispiel beim Bau neuer Wohnungen, denn wir strangulieren uns mit zu vielen Gesetzen und Vorschriften – und dadurch steigen die Kosten immer weiter.
Jedem muss aber auch klar sein, dass über 50 Prozent der Vorgaben mittlerweile aus Brüssel kommen, wobei auch in der Vergangenheit in Berlin viel zu oft gegenüber den europäischen Vorgaben noch aufgesattelt wurde.
Blicken wir auf die Erneuerbaren Energien. Wie steht es hier um die Genehmigungsverfahren?
Reinhart: Der Main-Tauber-Kreis ist Spitzenreiter unter allen Land- und Stadtkreisen im Ländle beim Ausbau regenerativer Energien. 50 Prozent deckt die Windenergie ab. 150 Anlagen stehen schon, mehrere Projekte sind noch in Planung. Dank exzellenter Ingenieurskunst sind auch bei uns mittlerweile hervorragende Windernten möglich. Ich werbe hierbei für Bürgerbeteiligungsmodelle, damit die Wertschöpfung nicht nur an weit entfernte Konzerne geht. Allerdings haben wir Genehmigungszeiten, die sind einmalig! Sechs Jahre für ein neues Windrad. Das geht nicht. Im Land haben wir immerhin den Instanzenzug mit der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens verkürzt.
Wie steht es um die Nutzung der Sonnenkraft?
Reinhart: Im Kreis gibt es rund 7800 Photovoltaikanlagen und zudem 30 PV-Freiflächenanlagen. Hier sollte noch mehr ermöglicht werden. Auch die Kommunen sind hier gefordert.
Zudem haben wir drei große Biomasse-Anlagen und wir nutzen die Wasserkraft im Main-Tauber-Kreis. Ein großes Zukunftsthema ist auch die Wasserstoff-Technologie, bei der wir seitens des Landes eine große Roadmap im Wirtschaftsausschuss, dem ich angehöre, beschlossen haben. Ich werbe grundsätzlich für den rascheren Ausbau der regenerativen Energien, denn es besteht ein enormes Wertschöpfungspotenzial.
Das Problem sind aber auch die Netzkapazitäten.
Reinhart: Ja, der Netzausbau geht zu langsam. Die großen Stromtrassen quer durch die Republik hinken den Zeitplänen um viele Jahre hinterher.
Eine Gasmangellage konnte bislang verhindert werden. Bürger und Unternehmen kämpfen trotzdem mit den Folgen der Energiekrise. Wie gut agiert der Staat?
Reinhart: Wir müssen froh sein, dass es ein nicht zu kalter Winter war. Das hat zur Entspannung der Märkte beigetragen. Aber die Energiekosten in Deutschland sind zu hoch. Einige Unternehmen überlegen Verlagerungen ins Ausland. Das muss verhindert werden.
Die Landesregierung will ein 100-Millionen-Euro-Hilfspaket zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und zur Erhöhung der Energieeffizienz für den Mittelstand auflegen, mit dem Folgeinvestitionen in Höhe von 500 Millionen Euro ausgelöst werden sollen. Auch der Strom- und Gaspreisdeckel zeigt Wirkung. Um die Bürger weiter zu entlasten, sollte der Staat die Energie- und Stromsteuern reduzieren, denn durch die Inflation und steigende Preise profitiert der Staat von höheren Mehrwertsteuereinnahmen.
Noch ein Satz zu unseren Abhängigkeiten: Der zu starke Fokus auf russisches Gas auch unter Bundeskanzlerin Merkel war – ebenso wie die vernachlässigte Sicherheitspolitk – naiv und im Rückblick ein großer Fehler der Berliner Politik.
Ist der Druck auf die Bürger durch das Verbot von neuen, reinen Gas- und Ölheizungen ab 2024 laut Plänen von Wirtschaftsminister Robert Habeck noch vertretbar?
Reinhart: Ich halte nichts von Zwang und Druck, ich halte etwas von Anreizen. Wir brauchen in diesen schwierigen Zeiten ein Belastungsmoratorium, denn die Bürger brauchen auch Zeit, sich umzustellen und neue Wege mitzugehen.
Viele können sich große Modernisierungsmaßnahmen an ihren Häusern nicht mal eben so leisten. Die Normalverdiener sind an der Grenze der Überlastung. Zudem sagen mir die Handwerker, dass es 14 Monate bis zur Lieferung einer Wärmepumpe dauert und sie 100 000 zusätzliche Fachkräfte brauchen. Doch wo kriegen wir die her? Die Studentenzahlen sind in neue Höhen gestiegen, wir müssen deshalb ein Stück wegkommen vom Akademiker-Wahn. Denn gerade das Handwerk hat goldenen Boden. Ich werbe ausdrücklich für berufliche Ausbildungen und die großen Chancen hier für unsere jungen Leute.
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