Bestenheid. Ein stetiges Brummen beschallt die Schuller-Fabrikhalle. Hinter einer Stahlkonstruktion wummert das Herzstück des kompletten Werks. Es besteht aus zwei großen Schmelzwannen, in denen der Rohstoff für die Produkte entsteht: Glas.
Mehr als 1000 Grad Celsius herrschen in diesen Becken. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Selten werden die Wannen wechselweise für eine Inspektion heruntergefahren. Um die enorme Hitze zu erzeugen, braucht es jede Menge Energie. In diesem Fall Strom.
Hintergrund: Dekarbonisierung der Industrie
Die Industrie (Verarbeitendes Gewerbe und Bauwirtschaft) gilt als der wichtigste Pfeiler des Wohlstands in Deutschland. Rund zehn Millionen Menschen waren 2022 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in dem Wirtschaftssektor beschäftigt.
In Wertheim sind nach den Zahlen des Statistischen Landesamts fast 60 Prozent der 7580 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Produzierenden Gewerbe tätig.
Mit der Änderung des Klimaschutzgesetzes hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr die Klimaschutzvorgaben verschärft und das Ziel der Treibhausgasneutralität bis 2045 verankert. Bereits bis 2030 sollen die Emissionen insgesamt um 65 Prozent (im Vergleich zu 1990) sinken.
Nach den Vorgaben muss die Industrie ihre Emissionen bis 2030 um rund die Hälfte (im Vergleich zu 1990) mindern. Laut Bundesregierung hat sie bereits eine erhebliche Reduktion erreicht. Mit Fördermaßnahmen für Energie- und Ressourceneffizienz und dem erneuerbarem Energien-Ausbau sollen weitere CO2-Einsparungen erzielt werden. wei
Bis 2045 soll die deutsche Industrie klimaneutral produzieren (siehe auch Hintergrund). Ein ambitioniertes Ziel, das erhebliche Auswirkungen hat – auch weil ein großer Teil der Wertschöpfung und damit des Wohlstands aus diesem Wirtschaftssektor stammt. Wie ist diese Transformation zu schaffen?
Mammutaufgabe
Auch bei Schuller zerbrechen sie sich die Köpfe, auf welche Weise man das Ziel hin zur klimaneutralen Produktion hinbekommt. Es ist eine Mammutaufgabe. Werkleiter Alexander Ückert ist einer von jenen, die sie stemmen müssen.
Der 35-Jährige ist ein Eigengewächs. Seine Karriere startete er als Ingenieur-Student mit einem dualen Studium. Nach ein paar Stationen an deutschen Standorten des US-Konzerns Johns Manville, zu dem Schuller gehört, steht er nun an der Spitze des Produktionsbetriebs in Wertheim.
Geschätzt verbraucht das Werk im Bestenheider Industriegebiet so viel Strom wie die komplette Große Kreisstadt – sämtliche andere Gewerbebetriebe inbegriffen, erläutert Ückert. Konkrete Angaben will er nicht machen. Betriebsgeheimnis.
Der Energiehunger wird aber nicht nur mit Strom, sondern auch durch Gas gestillt – vor allem bei der Trocknung der Produkte, die vornehmlich im Bausektor zum Einsatz kommen.
Das geschmolzene Glas aus den Wannen wird über mehrere Fertigungslinien zunächst zu Pellets verarbeitet. Aus diesen entstehen Glasfasern, Ausgangsprodukt beispielsweise für Vliesmatten. Die Kunden verwenden diese als Trägermedium in Teppich- oder Vinylfußböden, Deckenplatten, Tapeten, Seitenpaneelen von Wohnwägen, Dachpappen und häufig als Grundmaterial für Isolationselemente. Schuller-Produkte sind allgegenwärtig. Man sieht sie aber nicht, denn sie stecken meist in Bauteilen.
Strom aus Wind und Sonne
Seit der Jahrtausendwende verlassen das Schuller-Werk auch Vlies-Materialien für Filteranlagen. Air Media nennt sich dieses Produkt, das wegen seiner Vorteile ein Renner in der Angebotspalette ist, wie Pressesprecher Martin Kleinebrecht erläutert. Das Filtervlies erzeugt wenig Widerstand im Luftstrom, die Mikro-Glasfasern sind bio-löslich, richten keinen Schaden in der Lunge an, sollte man sie einatmen.
In Bestenheid will Johns Manville wegen des Markterfolgs eine vierte Produktionslinie einrichten (wir berichteten). Die Genehmigung steht aus. Sollte sie erteilt werden, steigt der Energiebedarf weiter. Vor allem beim Erdgas , weil dies bei der Air-Media-Produktion zum Einsatz kommt. Mit Gas werden auch die riesigen Trockenöfen des Werks betrieben, und es kommt bei der Heizungsanlage zum Einsatz, erklärt Alexander Ückert.
Transformation
Um die Transformation zu einer klimaneutralen Produktion zu schaffen, müssen stattdessen Energieträger einspringen, die kein Kohlendioxid freisetzen. Der Strom für die Wannen und andere Anlagen im Schuller-Werk könnte mit erneuerbarer Energie erzeugt werden – die einfachere Herausforderung, denn immer mehr Windkraft- und Photovoltaikanlagen werden in Zukunft ans Netz gehen.
Alexander Ückert setzt beim Erdgas-Ersatz auf Grünen Wasserstoff. Er habe „große Hoffnungen“ auf die Wasserstoffallianz Main-Tauber, die jüngst eine eigene Gesellschaft gegründet hat (wir berichteten). Die Vision der Initiative sei „sehr attraktiv“. Für die industriellen Kunden müsse aber auch ein „wirtschaftlich tragfähiges Konzept“ herauskommen, um auf dem Markt überlebensfähig zu sein. Mittlerweile arbeite man bei Schuller schon an einer Machbarkeitsstudie. Kernfrage: Stehen im Hause die Technologien zur Verfügung, um Wasserstoff nutzbar zu machen?
Bislang sei dies nicht der Fall, so Ückert. Für das „ambitionierte Vorhaben“ müssten noch viele Fragen geklärt werden. Am Ende wäre der Grüne Wasserstoff aber das „Schlüsselelement für die Dekarbonisierung des Standorts“.
Wasserstoffleitungen
Auf jeden Fall müsste der Wasserstoff ähnlich wie das Erdgas per Leitung geliefert werden. Alles andere, etwa der Transport mit Lastwagen, „macht keinen Sinn bei dem Energiebedarf unserer Größe“, stellt Ückert fest. Dutzende Lkw müssten das Werk in Bestenheid ansteuern. Eine solche Vorgehensweise sei weder wirtschaftlich noch ökologisch sinnvoll, und die Anwohner in der Nachbarschaft würden kaum Verständnis aufbringen.
Wenn es mit dem Wasserstoff doch nicht funktioniert, müsse man andere Wege suchen, um vom Gas wegzukommen, beispielsweise die Elektrifizierung der Prozesse vorantreiben. Auch das werde derzeit bei Schuller geprüft.
Einstweilen beschreitet man laut Ückert den nahe liegenden Weg, um den Ausstoß des klimaschädlichen Kohlendioxids zu verringern: Energiesparen durch stetige Steigerung der Effizienz in den Produktionsprozessen und Wärmerückgewinnung.
Effizienz steigern
Dabei helfe das innerbetriebliche Vorschlagswesen. Ein Maschinenführer habe zusammen mit einem Nachwuchsingenieur die Energieeffizienz eines Fertigungsprozesses drastisch gesteigert. Im vergangenen Jahr sei dadurch so viel Strom eingespart worden, wie 150 Haushalte verbrauchen.
Auf dem Weg zur klimaneutralen Fabrik sind also zunehmende Elektrifizierung, Effizienzsteigerungen und alternative Energieträger wie Wasserstoff der Schlüssel zum Erfolg.
Um die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu gewährleisten, müssten Bundesregierung und EU verhindern, dass Unternehmen aus Ländern anderer Regionen die Märkte mit Gütern überschwemmen, die unter laxeren Bedingungen produziert werden, sagt Martin Kleinebrecht.
„Unsere Produkte werden benötigt. Viele sind systemrelevant.“ Würden sie beispielsweise in Asien hergestellt, weil dort die Anforderungen geringer sind, schade das nicht nur der hiesigen Industrie. „Dem Klima ist dadurch auch nicht geholfen.“
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