Wertheim. Vor einem Jahr überfiel Putins Russland die Ukraine und überzieht das Land seither mit Terror. Die FN sprachen mit dem Wertheimer Igor Kos, der aus der Ukraine stammt und im Alter von 14 Jahren mit seiner Familie nach Deutschland kam, über die Zustände in seinem Heimatland, was der Krieg sowie Moskaus Propaganda für die russischsprachige Gemeinde in der Main-Tauber-Stadt bedeuten und wie er persönlich mit den Sympathien einiger für den Despoten im Kreml umgeht.
Zur Person: Igor Kos
Igor Kos ist 1982 in Lwiw (Lemberg) im Westen der Ukraine auf die Welt gekommen. Zusammen mit seiner Familie kam er im Alter von 14 Jahren als Kontingentflüchtling nach Würzburg. Sein Vater hat jüdische Wurzeln und stammt aus der Ukraine. Seine Mutter ist in Russland geboren.
In Würzburg studierte Igor Kos auf der Fachhochschule Soziale Arbeit. Schwerpunkt: Integration durch Theaterarbeit. Er ist als Jugend- und Sozialarbeiter an der Berufsschule Miltenberg-Obernburg tätig.
Zwischenzeitlich absolvierte Igor Kos in Moskau im Rahmen der Internationalen Theater- Sommerschule des Verbandes der Theaterschaffenden der Russischen Föderation eine zweimonatige Schauspiel-Zusatzausbildung.
Er arbeitet derzeit nebenberuflich als Moderator auf unterschiedlichsten Events, wie Hochzeiten, Jubiläen oder Firmenfeiern.
Igor Kos lebt mit seiner Frau, wegen der er nach Wertheim fand, und seinen beiden Kindern im Stadtteil Bestenheid. wei
Auf der Kundgebung auf dem Wertheimer Marktplatz vor knapp einem Jahr haben Sie die Russlanddeutschen in Wertheim aufgefordert, den Wunsch der Ukrainer zu akzeptieren, ihren eigenen Weg zu gehen, um sich besser entwickeln zu können. Sie erinnerten daran, dass viele Russischsprechende nach Deutschland gekommen sind, weil sie hier bessere Chancen hatten. Hat sich die Einstellung der Leute, die teilweise Putins Überfall guthießen, inzwischen geändert?
Igor Kos: Was ich bei dem Redebeitrag angesprochen habe, ist immer noch aktuell. Es gibt immer noch viele Leute, die den Überfall rechtfertigen und erstaunlicherweise die Politik Putins unterstützen. Ihre Argumentation: Die US-Amerikaner sind schuld. Sie haben den Konflikt provoziert.
Diese Begründung ist doch absurd. Werden die Leute, die das behaupten, von der russischen Propaganda beeinflusst?
Igor Kos: Die russischen Propagandisten machen hervorragende Arbeit in Deutschland.
Wie wird diese Propaganda verbreitet?
Igor Kos: Die Ausstrahlung vieler russischer TV-Sender ist in Deutschland mittlerweile abgeschaltet, aber über das Internet kann man sie trotzdem empfangen. Es scheint so, als könnten einige Menschen ohne diese nicht leben. Zudem heizt die AfD die Lage an. Die Erzählung ist, dass es uns beispielsweise wegen der Preissteigerung schlecht geht. Man sucht nach Schuldigen. Nicht die Russen hätten den Krieg begonnen, sondern die Ukrainer selbst, angestachelt von den USA.
Die Leute müssen diese Propaganda ja nicht konsumieren, sondern haben auch Zugriff auf Informationen, die neutraler Art sind. Gibt es kein Misstrauen, wenn sie diese Lügen serviert bekommen?
Igor Kos: Sie sind seit Jahren gewöhnt, russische Nachrichten anzuschauen. Bei dieser Gruppe von Menschen fehlt das kritische Denken. Ich selbst beobachte die russische Berichterstattung, die deutsche und die ukrainische und hinterfrage dies alles. Man muss eine nachvollziehbare Begründung finden für Situationen. Die Menschen neigen dazu, einfache Erklärungen zu suchen.
Wie sieht denn diese Erklärung aus?
Igor Kos: Ungefähr so: Wir müssen mit Russland Freundschaft pflegen. Das hat uns Vorteile gebracht. Wir haben günstiges Gas bekommen und viele interessanten Projekte miteinander umgesetzt. Warum müssen wir uns für jemanden opfern?
Und das Opfer, das die Ukraine seit einem Jahr bringen muss, wie wird das betrachtet?
Igor Kos: Die Ukraine wird in den Augen dieser Leute von Nazis beherrscht. Und die sind von Washington gesteuert.
Der jüdische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Nazi? Das alleine ist doch absurd.
Igor Kos: Ja, und es gibt zum Beispiel auch die Behauptung, dass die US-Amerikaner wegen des Kriegs und der Sanktionen günstiges Gas aus Russland beziehen können und deswegen profitieren.
Kommt das wirklich in Gesprächen vor, die Sie führen?
Igor Kos: Mittlerweile habe ich aufgehört, mit den Leuten darüber zu diskutieren. Wenn ich von Russlanddeutschen auf meine Herkunft und den Krieg angesprochen werde, schweige ich dazu. Wenigstens das akzeptieren sie. Es ist doch absurd, das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine in Frage zu stellen. Was soll ich denn sagen, wenn behauptet wird, die Ukraine sei eine künstliche Nation, die Ukrainer ein künstliches Volk? Ich habe am Anfang des Kriegs viel Zeit in Überzeugungsarbeit investiert. Jetzt muss ich einräumen: Es nutzt nichts.
Wenn man Probleme ignoriert, bleibt das auch nicht folgenlos.
Igor Kos: In der Tat: Bedauerlicherweise sind viele Familien wegen des Konflikts auseinandergebrochen, auch mein erweiterter Familienkreis ist betroffen. Auf Details möchte ich hier nicht eingehen.
Es ist offenbar Staatsräson Russlands, das alte Imperium wieder aufzubauen. Sollte der Krieg zu Gunsten Moskaus ausgehen, sind dann andere Nationen gefährdet?
Igor Kos: Die sagen das offen im Staatsfernsehen: „Wir marschieren Richtung Berlin. Wir können das gerne wiederholen.“ Und trotzdem unterstützen manche russischsprachige Deutsche diese Seite. Es ist offensichtlich, dass hier bei einigen Leuten die Integration nicht gelungen ist. Sie sind in ihren Grüppchen geblieben.
Wie sollte man damit umgehen?
Igor Kos: Man könnte beispielsweise Info-Veranstaltungen oder Diskussionsrunden durchführen, wo die Menschen miteinander darüber sprechen können. Man sollte in einem Dialog bleiben, damit die Distanz nicht noch größer wird. Die jüngere Generation sollte man versuchen, über soziale Netzwerke zu erreichen.
Wie ist die Situation derzeit in Lemberg?
Igor Kos: Meine Freunde berichten, dass die Lage sich dort stabilisiert hat, obwohl es immer wieder Luftalarm gibt. Wenn ich mir vor Augen führe, dass es immer wieder Raketenangriffe gibt und viele auch um das wirtschaftliche Überleben kämpfe, dann bin ich gerne bereit, Opfer zu bringen, zum Beispiel die die Preissteigerungen wegen des russischen Angriffs und der daraus resultierenden Verknappung in der Energieversorgung. Man muss sich vor Augen führen, dass ein – wenn auch unwahrscheinlicher – Sieg der Russen in der Ukraine zum Chaos führen würde. Ich bin mir sicher, dass andere Länder, beispielsweise die baltischen Staaten, angegriffen würden.
Wie schätzen Sie die westliche Unterstützung für die Ukraine ein?
Igor Kos: Ich bin sehr froh, dass Waffen geliefert werden, damit sich die Ukraine verteidigen kann. Es gibt keinen anderen Weg. Russland muss besiegt werden. Nach allem, was bisher in diesem Krieg passiert ist, liegt auf der Hand, dass es dafür keine Alternative gibt. In Russland selbst gibt es offenbar keinen Widerstand. Das ist erschreckend. Wenn Russland den Krieg schließlich verloren hat, muss das Land über mehrere Generationen hinweg aufgebaut werden. Das Verhältnis von Russland zum Rest Europas ist nachhaltig zerstört.
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