Lauda. Anna Nedzelska lächelt. „Es geht mir gut“, sagt die Ukrainerin. Sie sitzt bei Familie Hehn am Tisch. „Wir sind in Sicherheit.“ Zusammen mit ihrem Sohn, der Mutter, der Schwester und deren Tochter ist sie nur wenige Stunden nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar des letzten Jahres vor den Bomben geflohen. Der schlimmste Tag ihres Lebens. Ziel war Lauda und die Familie Hehn, wo die studierte Germanistin vorher schon einige Monate den Vater von Prisca Hehn betreut hat.
Traurigkeit und Wut mischen sich unter die Angst und Sorge um Freunde und Verwandte, die noch immer im Kriegsgebiet leben und direkt an der Front kämpfen. Wenn Anna Nedzelska an ihren Bruder in Odessa und an ihren Schwager in Mykolaiv denkt, kommen immer wieder die Tränen. Sie hat Angst, dass ihnen bei den Kämpfen etwas zustoßen könnte. Der Mann ihrer Schwester Halyna ist Polizist und in Mykolaiv stationiert.
Nicht nur Gebäude sind zerstört, auch die Zukunft der Menschen.“
Vor einem Jahr haben die FN die junge Mutter schon einmal besucht. Damals, Anfang März, war sie nach einer strapaziösen Flucht mit der Familie in Lauda angekommen – erschöpft von den Traumata des Erlebten. Sie waren die ersten, die in Lauda-Königshofen Zuflucht gesucht haben. Mittlerweile leben 130 Ukrainer in der Stadt. Angst und Ungewissheit schwangen bei jedem Wort mit. Die sind ist zwar nicht verschwunden, aber ihren fröhlichen Charakter und den positiven Blick nach vorn hat sich die starke Ukrainerin bewahrt.
Nur schwer zu ertragen
„Ich schaue täglich die Nachrichten. Ich will wissen, was passiert“, sagt sie. Ihre Informationen bezieht sie aus ganz unterschiedlichen Medien, auf Deutsch, Englisch und Ukrainisch, aber auch Russisch. Die Bilder der zerstörten Städte machen Anna Nedzelska fassungslos. „Es schmerzt. Von meinem Mykolaiv ist nicht mehr viel übrig.“ Die Universität, in der sie studiert, die Schule, in der sie als Lehrerin unterrichtet hat, und so viele Wohnhäuser liegen in Schutt und Asche. Ein Anblick, der für sie nur schwer zu ertragen ist. Wieder fließen Tränen. „Nicht nur Gebäude sind zerstört, auch die Zukunft der Menschen.“ Und Anna Nedzelska weint um die Toten, die dieser Krieg schon gefordert hat. Auch sie hat viele Freunde verloren. Doch sie braucht auch immer wieder eine Pause, will nicht dauernd über die schrecklichen Ereignisse reden oder nachdenken. „Sonst werde ich verrückt.“
Wie ist die Situation vor Ort? „Vor kurzem war es ganz schwierig“, erzählt die 28-Jährige von täglichen Raketenangriffen. Die Versorgungslage ist schlecht, die Infrastruktur ist fast zerstört. Nur wenige Stunden am Tag gibt es überhaupt Elektrizität. Auch die Heizungen sind ausgefallen, die Menschen frieren.
Was sie von Deutschland aus an Unterstützung organisieren kann, versucht die Familie zu ermöglichen. Einen Schlafsack, Handschuhe sowie warme Kleidung für den kämpfenden Bruder an der Front, aber auch Kerzen, weil ja immer wieder der Strom ausfällt. Ob Mykolaiv, Odessa oder Bachmut: Auch finanzielle Hilfe wird geleistet.
Nur kurz wollte die sechsköpfige Gruppe bleiben. Vor allem Mutter Olga hatte gehofft, dass in wenigen Wochen der Spuk vorbei ist. Doch es ist anders gekommen. Statt wieder zurück in die Heimatstadt Mykolaiv am Schwarzen Meer zu gehen, versucht die Familie, sich in Lauda eine neue Existenz aufzubauen. In der Zwischenzeit durfte auch Annas Vater ausreisen. Der 60-Jährige hat sogar schon eine Arbeit gefunden. Zuwachs im Haus Hehn gab es auch, weil eine Familie aus dem hart umkämpften Irpin ebenfalls Zuflucht in Lauda gefunden hat.
Kontakt abgebrochen
Wie stehen ihre russischen Freunde ein Jahr nach Kriegsbeginn zu Putin und den Gefechten? „Das ist für mich das Schwierigste und Schlimmste“, sagt die 28-Jährige, „denn in Russland glauben viele den örtlichen Nachrichten.“ Der Kontakt mit den Freunden ist mittlerweile abgebrochen – auch weil ignoriert wird, dass Bomben fallen und Krieg herrscht. „Man muss doch trotz der ganzen Nachrichten im Fernsehen kritisch sein“, kann sie die Haltung ihrer russischen Freunde nicht verstehen. Und dann erzählt sie von ihrem Schwager, dessen Vater russischstämmig ist. Er habe die Situation in der Ukraine erlebt, die Verwandten in Russland glaubten ihm aber nicht. „Der Riss geht durch die gesamte Familie“, sagt Anna Nedzelska. Deshalb ist für sie klar: Die Welt muss wissen, was in der Ukraine passiert.
Die 28-Jährige ist dankbar, dass sie die Chance hat, hier in Sicherheit zu leben. Das ist für sie nicht selbstverständlich. Ein Stück dieser Sicherheit will sie auch den geflüchteten jungen Ukrainern geben. Schon in Mykolaiv hat sie unterrichtet. An der Gemeinschaftsschule und der Grundschule Süd in Lauda vermittelt sie den Schülerinnen und Schülern erste Kenntnisse in Deutsch als Fremdsprache. „Es ist wichtig, eine Aufgabe zu haben. Ich kann etwas Gutes tun“, so die 28-Jährige.
Seit Mai offiziell beim Land als Lehrkraft angestellt, unterrichtet sie auch an der Grundschule in Grünsfeld und der Grundschule in Wittighausen. „Es ist auch für die Kinder wichtig, dass sie jemanden haben, der ihre Sorgen versteht, der das Gleiche erlebt hat“, ist Anna Nedzelska überzeugt. „Die Kinder haben viel Schreckliches erlebt, sie sind traumatisiert.“
Ich sehe die Fotos der Stadt, aber die Zerstörung ist weit weg. Dies mit eigenen Augen vor Ort zu sehen, davor habe ich Angst.“
Ganz einfach war es nicht, die deutsche Bürokratie zu meistern, weiß auch Prisca Hehn, bei der die Familie Zuflucht gefunden hat. Viele Behördengänge waren nötig, viele Formulare mussten ausgefüllt werden. Denn so manche Bescheinigung, wie einen Impfpass, gibt es in der Ukraine nicht gebündelt wie hier. Dort wird der Nachweis in der Kita, der Schule oder beim Arbeitgeber hinterlegt. Als Nicht-EU-Bürger ist der Führerschein nur so lange gültig wie der Aufenthaltstitel. Auch die beglaubigte Übersetzung von wichtigen Dokumenten vom Ukrainischen ins Deutsche war eine weitere Hürde neben vielen anderen. Und für jeden Arztbesuch braucht man einen Erlaubnisschein, dass die Behandlung nötig ist. „Aber viele haben geholfen“, freut sich Anna Nedzelska.
Unbürokratische Unterstützung gab es von der Stadt Lauda-Königshofen, unterstreicht sie dankbar. Schwieriger sei es aber mit dem staatlich verordneten Sprachkurs zur Integration, den Annas Familie belegen muss. Weil die Zeiten oft nicht mit den Arbeitszeiten der Geflüchteten vereinbar waren, mussten schon Arbeitsverhältnisse wieder gekündigt werden. Zumindest Mutter und Schwester hätten eine Lösung gefunden, dass sich immer jemand um die beiden Kinder kümmern kann.
In Lauda integriert
Anna Nedzelska hat in Lauda einen sicheren Hafen gefunden und will – wie alle ukrainischen Geflüchteten – weder dem Staat noch jemand anderem „auf der Tasche liegen“. Sie integriert sich in das Leben vor Ort. Das heißt für sie auch, Verantwortung zu übernehmen. In der Kita ihres Sohnes Pavel ist sie stellvertretende Elternbeiratsvorsitzende und kümmert sich auch um andere Ukrainer. Vor allem bei Behördengängen ist sie vielen eine wertvolle Hilfe und fungiert als Dolmetscherin. Und natürlich schaut sie auch beim Fußballverein vorbei, wo Pavel mit großer Begeisterung aktiv ist.
Angst vor weiterer Eskalation
Will sie wieder zurück, sobald der Krieg vorbei ist? Anna Nedzelska überlegt nur kurz. „Nein“, sagt sie traurig. „Ich sehe die Fotos der Stadt, aber die Zerstörung ist weit weg. Dies mit eigenen Augen vor Ort zu sehen, davor habe ich Angst.“ Sie sieht ihre Zukunft und die ihres Sohnes Pavel in Deutschland. Dass aber ihre Eltern und die Schwester mit ihrer Tochter zurückkehren, kann sie verstehen. Zumal auch noch die Großeltern in der Ukraine leben.
Vor dem Jahrestag des Kriegsbeginns haben die geflüchteten Ukrainer Angst. Sie befürchten weitere Eskalationen. Am 24. Februar wollen sie sich treffen und gemeinsam beten – für ein rasches Ende des Blutvergießens unter Brüdern. „Es wäre so schön, wenn es endlich vorbei wäre.“
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/orte/lauda-koenigshofen_artikel,-lauda-koenigshofen-ukrainische-familie-ist-vor-den-bomben-nach-lauda-geflohen-_arid,2053846.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.fnweb.de/orte/lauda-koenigshofen.html