Die neue Bundesregierung hat sich viel vorgenommen. Im FN-Gespräch erzählen die Sozialdemokraten Thomas Kraft und Patrick Schönig wie sich die Berliner Politik auf Wertheim auswirken wird.
Wertheim.Der Sozialdemokrat Olaf Scholz ist in dieser Woche zum Bundeskanzler gewählt worden. Kaum einer hätte das vor Monaten erwartet: Die SPD dümpelte in Umfragen weit unter der 20-Prozent-Marke. Die Fränkischen Nachrichten sprachen mit dem regionalen Wahlkampfleiter und SPD-Kreisvorsitzenden Thomas Kraft, der auch Chef des Ortsvereins ist, sowie Patrick Schönig, Vorsitzender der Gemeinderatsfraktion, über die Kampagne und das Ergebnis in Wertheim. Vor allem ging es darum, wie sich die Politik der Ampelkoalition auf das Leben in der Großen Kreisstadt auswirken wird.
Die SPD stellt mit Olaf Scholz den neuen Kanzler. Das war im Frühjahr noch sehr unwahrscheinlich, da lagen die Sozialdemokraten in den Umfragen weit hinten. Wie haben Sie den Wahlabend erlebt?
Patrick Schönig: Ganz anderes als früher. Ich erinnere mich gut an den Wahlsieg Gerhard Schröders 1998. Damals war ich noch Juso. Wir haben uns im „Bronnbacher Hof“ getroffen. Es herrschte ausgelassene, ja überschäumende Stimmung. Als Sozialdemokrat stand man in den vergangenen Jahren nicht immer auf der Sonnenseite der Politik. Obwohl wir etliche Dinge durchgesetzt haben. Es war ja im Grunde eine sozialdemokratische Merkel-Regierung. Wir hatten die guten Ideen, profitierten aber nicht davon. Dann kam der Sommer: Es gab äußere Einflüsse wie die Flutkatastrophe, aber vor allem herrschte bei uns konsequente Sachlichkeit. Als ich am Wahlabend mit den Kindern vor dem Fernseher saß, war ich stolz darauf, wie dieses Ergebnis zustande gekommen ist. Themen und die politische Idee waren am Ende doch entscheidend. So war ja auch die ganze Kampagne angelegt: Olaf Scholz will Kanzler werden, und er will das und das erreichen. Klare Botschaften, die sich jetzt auch im Koalitionsvertrag wiederfinden.
Thomas Kraft: Ich war beim Treffen der Wahlkampfleitung in Markelsheim. Da herrschte schon große Freude, als die Ergebnisse hereinkamen. Wir haben in diesem Wahlkampf viel gearbeitet und sind ewig nicht aus dem Keller gekommen: 15 bis 16 Prozent – wie zementiert. Dann haben sich die Umfragewerte bewegt. Schönheitsfehler: Das Bundestagsmandat war für uns nicht zu erreichen mit Listenplatz 29 unserer Kandidatin.
In Wertheim hat es allerdings fast zu Platz eins gereicht.
Kraft: 25,77 zu 25,46 Prozent zugunsten der CDU. Es haben nur 39 Stimmen gefehlt. Unsere Kandidatin war 14 Mal in Wertheim. Wertheim ist eine Gemeinde, die – relativ gesehen – eher SPD-freundlich ist. Wo die Hochburgen sind, da wollten wir den Wahlkampf intensiv führen. Wir sind mit der Kandidatin von Tür zu Tür, beispielsweise in Bettingen, Urphar, Sonderriet und Eichel-Hofgarten. Wir haben auch Veranstaltungen mit wichtigen Organisationen wie den Gewerkschaften und Sozialverbänden gemacht. Da waren wir willkommene Gesprächspartner.
Kommen wir zu den Inhalten. Stichwort Mobilität. Wie wird sich die Politik der Ampel-Regierung auf das Leben in Wertheim auswirken?
Kraft: Wir sollten beispielsweise in vier Jahren einen Stundentakt des öffentlichen Nahverkehrs in alle Ortschaften haben.
Das ist sehr ambitioniert.
Kraft: Das spiegelt aber auch die Mobilitätsgarantie des Landes wider, um die wir gerade ringen.
Konkret, können ältere Mitbürger beispielsweise aus Sonderriet jede Stunde mit dem öffentlichen Nahverkehr zum Arzt in die Stadt fahren?
Schönig: Es sind Dinge möglich, die vorher nicht möglich waren. Ich erwarte von den involvierten Bundesministerien auch Antworten auf Fragen, die darüber hinausgehen, ob ein Bus nach Sonderriet fährt und schaut, ob da jemand mitfahren will. Da ist manches noch nicht zu Ende gedacht.
Zur medizinischen Versorgung: Was erwarten Sie von der neuen Regierung?
Schönig: Es schafft Sicherheit, dass ich – beispielsweise im Falle eines Herzinfarkts – nach Wertheim in die Klinik kann. Ob das Krankenhaus langfristig bestehen kann, hängt hauptsächlich von der Finanzierung ab. Es braucht Bundesmittel für die Grund- und Regelversorgung auf dem Land. Da erwarte ich viel von Herrn Lauterbach. Flächendeckende Gesundheitsversorgung ist Solidarität: Unsere Kliniken und Hausärzte gehören dazu.
Kraft: Der Koalitionsvertrag macht kommunale medizinische Versorgungszentren möglich. Sie sind eine Option, die wir in Wertheim irgendwann benötigen könnten, denn bei niedergelassenen Ärzten reißen langsam Lücken auf. Lauterbach will ein solidarisches Gesundheitssystem etablieren, so dass die ländliche Region genauso eine gesicherte Versorgung hat.
Kernthema der Bundesregierung ist der Klimaschutz. Und hier spielen erneuerbare Energien eine zentrale Rolle. In Wertheim gibt es vier größere Projekte, zwei davon sind umstritten: die Photovoltaikanlage bei Bronnbach und die Pläne für das „Repowering“ des Windparks in Höhefeld. Es gibt Widerstand. Auch weil die Belastungsverteilung zwischen ländlichen Regionen und Ballungsräumen ungleich verteilt sind. Der Koalitionsvertrag sieht ausdrücklich eine Vereinfachung und Verkürzung von Genehmigungsverfahren vor. Wie wirkt sich das auf künftige Projekte aus?
Kraft: Es braucht Flächen für erneuerbare Energien. Das ist klar und wird Folgen haben. Das kann man nicht ausschließen.
Schönig: Und es wäre absolut unehrlich, wenn man diesbezüglich mit einem Eiertanz beginnt.
Kraft: Mit Agro-PV-Anlagen lassen sich für die Solarenergie genutzten Flächen auch für die Landwirtschaft verwenden. Das würde schon mal diesen Zielkonflikt lösen. Dies Flächen würden nicht gänzlich der Nahrungsmittelproduktion entzogen. Im Übrigen werden auch andere landwirtschaftliche Flächen für Energieerzeugung genutzt, beispielsweise mit dem Maisanbau für Biogasanlagen.
Schönig: Es ist ein unredliches Argument, dass man für die erneuerbaren Energien den Bauern Produktionsfläche wegnehmen würde. Landwirtschaft ist nicht nur Nahrungsmittelerzeugung, sondern auch Energiewirtschaft.
Kraft: Und der Flächenverbrauch für die Windenergie ist minimal.
Aber es gibt Auswirkungen auf die Optik, Beschwerden über Schall und den ästhetischen Eingriff in die Landschaft.
Kraft: Das sind subjektive Empfindungen. Damit muss man umgehen. Wir werden Veränderungen brauchen. Würden wir ein Gas- oder Kohlekraftwerk in Wertheim errichten wollen, gäbe es auch Widerstand. Darum finde ich es gut, wie wir mit diesen Einwänden umgehen und man sich für die Mediation Zeit nimmt. Im Koalitionsvertrag ist auch enthalten, dass ein Teil der Wertschöpfung auf jeden Fall in der Standortkommune bleibt, so dass nicht nur Investorengeld von außen den Profit abzieht.
Schönig: Das war für uns ein wesentlicher Punkt im Wahlkampf: Diejenigen, die konstruktiv bei der Klimawende mitmachen, sollen hinterher nicht die Gelackmeierten sein. Alle sollen beim Klimawandel mitmachen können. So könnte beispielsweise auch der Besitzer eines Hauses in der Altstadt, wo auf den Dächern keine Solaranlagen montiert werden dürfen, sich an einer PV-Anlage beteiligen können. Für den muss man als Gemeinde eine Alternative schaffen, etwa mit einem kommunalen Solarpark. Momentan bauen Fürsten und Kapitalgesellschaften Windräder und Solarparks.
Die Stadtwerke oder die Stadt selbst sollen solche Anlagen betreiben und Beteiligungen ermöglichen?
Schönig: Stadtwerke oder andere Organisationen, an denen die Stadt beteiligt ist. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Wir wollen keinen Klimaschutz, den sich nur die Vermögenden leisten können. Auch Geringverdiener müssen davon profitieren können.
Kraft: Auf jeden Fall ist Klimaschutz die Chance dieser Koalition. Ein Querschnittsthema, das alles überlagert. Das betrifft viele Bereiche: Arbeit, Mobilität, Wohnen. Jetzt haben wir in der Bundesregierung eine Konstellation mit der FDP, die die Marktwirtschaft mobilisiert, mit den Grünen, die den Klimaschutz voranbringen und der SPD, die das so gestalten will, dass es für alle bezahlbar ist. Die drei Partner müssen viel leisten, und es muss gelingen.
Da sind aber auch etliche Zielkonflikte enthalten.
Schönig: Im Dreiklang Marktwirtschaft, Klima und Soziales kann das funktionieren. Scheitern ist keine Option. Das war auch der Unterschied zu den Koalitionsverhandlungen mit der Union. Zwei, drei Sachen, die konnte man umsetzen. Aber es gab kein Projekt. Jetzt haben wir eins, auch wenn es nicht einfach zu stemmen ist.
Wohnungsbau ist ein sozialdemokratischer Schwerpunkt in dem Koalitionspapier. Braucht es in Wertheim sozialen Wohnungsbau?
Kraft: Wir haben das ja schon auf Kreisebene aufgegriffen und festgestellt, dass es Bedarf gibt. Die Wohlfahrtsverbände hatten das signalisiert. Thema ist aber eher bezahlbares Wohnen. Das erreicht man, wenn man nicht nur Baugebiete für Einfamilienhäuser ausweist, sondern auch Mehrgeschossbau auf solchen Flächen ermöglicht.
Schönig: Bei dem Mietniveau in Wertheim ist sozialer Wohnungsbau eher nicht notwendig. Aber eben bezahlbares Wohnen, und da ist die Mischung auf den Ortschaften wichtig. Mit Hilfe der Offensive der Bundesregierung werden Mehrfamilienhäuser auch auf den Ortschaften einfacher zu bauen sein. Das ist ein Paradigmenwechsel auf Bundesebene, der sich in Wertheim auswirken wird.
Kraft: Ich hoffe auch auf sozialen Wohnungsbau. Eine Erkenntnis aus dem Kommunalwahlkampf ist: Armut versteckt sich.
Schönig: Wir kennen die Leute, die einen Riesenanteil ihres Einkommens für Miete ausgeben müssen und in zum Teil erbärmlichen wohnlichen Verhältnissen leben, weit weg vom normalen Standard. Das sind jene, die sich nach und nach von der Gesellschaft verabschieden. Wir müssen Politik für diese Leute machen und sie zurückholen.
Wie ist denn der Zustand des SPD-Ortsvereins? Gibt es Jusos?
Kraft: Wenige. Bei der Kommunalwahl hatten einige kandidiert. Aber wegen Studium oder Arbeitsplatzwechsel sind ein paar weggezogen. Die Jusos bauen sich gerade neu auf. Corona macht es schwierig. Wie soll sich eine Gruppendynamik auslösen, wenn man sich nicht persönlich begegnen kann? Es gibt auch neue SPD-Mitglieder. Der Ortsverein ist mit sich im Reinen, leider gehandicapt durch die Pandemie. Inhaltliches Highlight im Bundestagswahlkampf war das Treffen mit den Gewerkschaften.
Schönig: Die Leute kommen eben, wenn Du was zu sagen hast. Wenn du einen Inhalt mitbringst, an dem man sich reiben kann. Wir haben über den Mindestlohn und Mitbestimmung gesprochen. Die Veranstaltung hat mich mitgerissen. Sachliche, inhaltliche Arbeit ist der Schlüssel für eine gute politische Kultur. Was Corona angeht: Wir nehmen Dinge mit, die wir in Zukunft nutzen werden. Langfristige Bindungen wie in Vereinen werden seltener. Projektbezogene Engagements rücken stärker in den Fokus. Wenn man die Jugend beobachtet, sieht man, dass die sich ungern früh fest an eine Partei bindet. Aber durch den Schub in der digitalen Kommunikation können wir besser an diese Gruppe herankommen. Und wenn es jemand wegen eines Studiums wegzieht, können wir trotzdem in Kontakt bleiben.
In der politischen Kultur Wertheims scheint sich die Situation beruhigt zu haben. Woran liegt das?
Schönig: Die alten Rivalitäten im Gemeinderat scheinen wie aus der Zeit gefallen. In nehme das als eine Art neue Sachlichkeit wahr. Auch bei der Kommunalwahl: Wir haben uns Mühe gegeben, programmatisch zu arbeiten. Interessant ist, dass man mittlerweile nach sachlichen Gesprächen mit den anderen Fraktionen Dinge einfacher umsetzen kann. Es herrscht eine völlig andere Kommunikation. Die Zusammenarbeit funktioniert gut. Das wäre vor fünf Jahren unvorstellbar gewesen.
Trotz all Ihrer Freude über den Wahlsieg: Es gibt mal wieder keinen SPD-Bundestagsabgeordneten aus der Region. Wie lösen das die Sozialdemokraten?
Kraft: Für den Bundestag übernimmt das Kevin Leiser, der für den Nachbarwahlkreis Schwäbisch Hall-Hohenlohe nach Berlin geht. Für den Landtag macht das Klaus Ranger aus Neckarsulm. Es gibt Ansprechpartner, die sich kümmern.
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