Wertheim. Allein der Blick auf die stoffbezogenen Knöpfe des Gehrocks verrät Ursula Wehner, dass der einstige Träger der Jacke evangelischen Glaubens war. Auch die blaue Farbe des Oberteils lässt keinen Zweifel zu: Der Mann dessen gute Alltagskleidung auf einem Kleiderständer vor einer Vitrine im ersten Stock des Grafschaftsmuseums aufgebaut ist, lebte in einem der badischen Dörfer auf der linken Mainseite. Der Gehrock im Schaukasten ist dagegen grün gefärbt und hat Knöpfe aus Metall: Der „Grünkittel“ wurde von einem Katholiken von der rechten Mainseite getragen.
„An der Kleidung können wir wunderbar die Geschichte der Grafschaft Wertheim erklären: Wie ist das komplizierte Geflecht aus katholisch und evangelisch entstanden? Denn wenn man auf die Details bei der Kleidung hingewiesen wird, sieht man sofort die Unterschiede“, verdeutlicht die Volkskundlerin. Wehner beschäftigte sich bereits während ihres Studiums in Würzburg mit historischer Kleidung und betreut im Wertheimer Grafschaftsmuseum die Ausstellung der traditionellen Textilien. Die Abteilung sowie der Bereich zum Blaudruck sind in den vergangenen Monaten im Zuge der Modernisierung des Stadtmuseums in neue Räumlichkeiten umgezogen und werden neugestaltet.
„Die ländliche Kleidung war zuvor dort untergebracht, wo nun der Experimenta-Bereich für Kinder zu finden ist“, erklärt Wehner. Letzterer wurde nun um einen Webrahmen ergänzt, an dem die Besucher des Museums selbst für einige Bahnen zum Webschiffchen greifen können. Der Webrahmen schafft eine Überleitung zu einem weiteren Bereich, in dem Geräte zur Flachsbearbeitung gezeigt werden. Wer dann weitergeht, gelangt direkt in die neue Textilabteilung.
Evangelischer Hochzeitzug zeigt Tracht der Wertheimer Grafschaft
Im Moment wird dort noch gearbeitet: Neben einer der Vitrinen steht ein Paar lederner Stiefel. In Pappkartons und Hutschachteln lagern auf Papier gebettet goldene Brautkronen, die mit allerlei Blüten, Anhängern aus Metallfolie und Glaskugeln verziert sind. Neben den Kartons steht ein wattierter Unterrock.
Ursula Wehner feilt bis zur Wiedereröffnung der Ausstellung am Mittwoch, 9. Oktober, an den Feinheiten der Präsentation. Im Zentrum der Dauerausstellung steht ein evangelischer Hochzeitszug, wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem der Dörfer der Wertheimer Grafschaft hätte stattfinden können.
Angeführt wird der Zug durch den Bräutigam: Er trägt einen dunkelblauen Gehrock und knielange Hosen aus Hirschleder. Seine Jacke und den Dreispitz zieren üppige Buketts aus Stoffblumen. Hinter ihm folgt ein Hochzeitsgast im schwarzen Beichtmantel. Die Braut trägt ein Kleid mit schwarzem Rock und blauem Mieder, das mit Blumen bestickt ist. „Das hat man bei der Hochzeit allerdings nicht gesehen, weil darüber eine schwarze Jacke getragen wurde“, sagt Wehner. Ebenfalls zur Festtagsgesellschaft gehört eine Frau in schwarzer Sonn- und Feiertagstracht und weißer Abendmahlshaube. Neben dem Zug der Feiernden stehen die Schaulustigen in „guter“ Werktagskleidung. „Damals heiratete man am liebsten dienstags im Winter“, erklärt Wehner dazu.
Hilfe von einer Expertin aus Glasofen
Die Museumsmitarbeiterin nimmt die Figurine der Braut aus der Vitrine. Sie wird ihr den Kopf aufsetzen, der zuvor noch am Boden neben der Puppe stand. Auf dem Kopf sitzt eine besonders große und üppig verzierte Brautkrone, die von breiten Stoffbändern gehalten wird. „Elisabeth Matschiner, vom Gesangs- und Trachtenverein Glasofen hat die Krone für uns aufgearbeitet und mit den Brautbändern am Kopf der Puppe drapiert“, berichtet Wehnert. Der Gesangs- und Trachtenverein beschäftigt sich seit 1951 mit der Pflege der traditionellen Kleidung der Grafschaft Wertheim. Die Darstellung ihres Hochzeitszugs der ehemaligen Grafschaft Wertheim zählt seit dem Jahr 2023 zum immateriellen Kulturerbe in Bayern.
Bilder zeigen Tradition des Hochzeitszugs
Die Tradition, den Hochzeitzugs nachzustellen, besteht bereits lange: Schon im 19. Jahrhundert wurden Trachtenträger aus den verschiedenen Landesteilen Bayerns aber auch Badens zu Anlässen wie der Silberhochzeit des Großherzogpaares, den 75. Geburtstag des Prinzregenten oder zum Oktoberfest nach München beziehungsweise Karlsruhe eingeladen. „Damit wollte man nach dem territorialen Zusammenwürfeln nach Napoleon das Nationalgefühl fördern“, verdeutlicht Wehner, die die Textilausstellung unter anderem durch Fotografien solcher Veranstaltungen ergänzt.
Evangelische Identität über Kleidung bewahren
Besonderes die Bewohner jener Dörfer, die sich nach den Neuordnungen als Angehörige der evangelischen Konfession im katholischen Bayern wiederfanden, bewahrten ihre Identität über ihre Kleidung. „Aus diesen Ortschaften wie Esselbach, Bischbrunn, Hasselberg oder Schöllbrunn haben wir viele Trachten“, sagt Wehner. Der umfangreiche Fundus an ländlicher Kleidung, aus dem das Museum schöpft, geht auf die Sammlung des Historischen Vereins zurück, der schon vor dem ersten Weltkrieg begann, die Trachten aufzubewahren. Damals sei aufgefallen, dass traditionelle Kleidung weniger getragen werde, erzählt Wehner. Die „Trachten“ waren aus der Mode geraten. Allerdings: „Kleidung hat sich damals nicht so schnell verändert wie Moden heutzutage.“ Zu welchem Zeitpunkt eine Jacke oder ein bestimmter Rock genau getragen wurde, lässt sich heute allerdings nicht mehr rekonstruieren. „Wir haben kaum Fotografien aus der Zeit und wenn, dann sind diese nicht datiert. Zudem weiß man nicht, wie viel Wahrheit in einem Foto steckt. Sicher haben die Menschen ihre schönsten Sachen getragen, wenn ein Fotograf anwesend war.“
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