Bronnbach/Wertheim. „Gustav Schneider. Jetzt: Schäfer“, steht in großen Lettern über dem Schuhgeschäft. Im Schaufenster stehen blankpolierte Lederschuhe für Damen und Herren. In einem anderen Regal, das in einer schmalen Gasse neben dem Geschäft aufbaut ist, reihen sich weitere Schuhe. Vor jenem Regal posiert eine Menschengruppe: fünf Frauen, bis auf eine in dunklen Kleidern gewandet, zwei Kinder und drei Männer. „Der ganz rechts, das ist der Schuh-Schäfer“, ist sich Werner Freudenberger sicher. „Aber sein Sohn ist nicht dabei“, stellt Karlheinz Sommer fest. Albrecht Krimmer schüttelt den Kopf.
Die drei Männer sitzen vor Computerbildschirmen im Vortragssaal des Archivverbunds Main-Tauber in Bronnbach und betrachten die Szene auf dem Schwarzweiß-Foto. Sie vermuten, dass es in den 20er Jahren aufgenommen wurde.
„Wir sind alle echte Wertheimer“, betont Krimmer. Der 84-Jährige ist in der Eichelgasse geboren und aufgewachsen, genau wie der ein Jahr ältere Freudenberger. Sommer (84) hatte seine Wiege in der Packhofstraße. Die Gassen um den Wertheimer Marktplatz waren in Kindertagen ihr Spielplatz, später fanden sie in örtlichen Geschäften ihre Ausbildungs- und Arbeitsstellen. Gemeinsam haben die Männer den Wandel der Innenstadt und ihrer Bewohner miterlebt.
Werner Freudenberger stand einmal selbst hinter Hans Wehnerts Kamera
Den kostbaren Schatz der Erinnerungen der – mit Hermann Förstel und Gerhard Flegler – fünf Senioren nutzen die Mitarbeiter des Staatsarchivs Wertheim im Fall des Nachlasses der Wertheimer Fotografen-Familie Wehnert. Denn: Der mehrere zehntausend Aufnahmen umfassende Fundus bebildert Wertheims Stadtgeschichte ab den 1880er Jahren zwar auf vielfältige Weise, doch welche Orte, Gegenstände oder Personen die Fotografien zeigen, liegt oft im Dunkeln.
„Initiiert wurde die Arbeitsgruppe von Dieter Fauth vom Historischen Verein im Anschluss an einen öffentlichen Workshop im März 2023“, schildert Archivleiterin Dr. Monika Schaupp. Fauth, der die Treffen der Arbeitsgruppe als Schriftführer begleitet, schlug die heutigen Ehrenamtlichen vor.
Für die vier Männer war es keine Frage, dass sie ihr Wissen und ihre Zeit in die Recherche einbringen wollten. „Wir gehörten ja zu den letzten Zeitzeugen“, nennt Albrecht Krimmer einen Grund für ihre Motivation. Karlheinz Sommer ist als Stadtführer Experte für die Wertheimer Geschichte und für Werner Freudenberger hat das Engagement auch eine private Komponente. „Hans Wehnert war mein Freund – er war ein prima Kerl, wenn er auch in manchen Dingen etwas extrem war“, sagt der 85-Jährige. Von Zeit zu Zeit habe er Wehnert bei seinen Fotoaufträgen unterstützt – etwa bei Aufnahmen für ein Prospekt für die Stadt Rothenburg ob der Tauber oder bei Terminen für die Glasindustrie. Einmal stand Freudenberger sogar selbst hinter Wehnerts Kamera: Bei einem Ausflug bat ihn sein Freund, abzudrücken: Das Bild, das Hans Wehnert auf einer Wiese am Ufer der Elsava zeigt, veröffentlichte dieser später in einem seiner Bücher.
Porträts und Gruppenbilder unter die Lupe genommen
Mit den vor allem von Wehnerts Vater und Großvater zwischen 1880 und 1950 per Glasplattenfotografie aufgenommenen Porträts und Gruppenbildern beschäftigten sich die Ehrenamtlichen während ihrer Treffen. „Auf Fotos, die Personen zeigen, haben wir 2023 beim öffentlichen Workshop aufgrund des Datenschutzes verzichtet“, erklärt Schaupp, weshalb sich die Bearbeitung in der Kleingruppe anbot.
An bisher drei Terminen seit August des vergangenen Jahres wurden auf diese Weise jeweils rund 100 Fotografien durchgesehen: Gruppenaufnahmen vor Gebäuden, wie das Bild des Schuhgeschäfts, Vereinsmitglieder bei einem Ausflug, Chöre, Konfirmanden vor der Kirche.
„Bei ungefähr der Hälfte der Bilder haben wir mindestens einen Treffer“, sagt Archivmitarbeiterin Bettina Winkler, die die Bilder vor den Treffen auswählt und die Recherche begleitet. „Ja, wir haben schon etliche Charakterköpfe erkannt“, freut sich Albrecht Krimmer, der wie die anderen Männer in der Wertheimer Faschingsgesellschaft Wolfsschlucht Concordia engagiert ist.
Pinkelhaus des Wertheimer Bahnhofs auf einem Bild entdeckt
Doch nicht nur die Menschen, die auf den Fotos abgebildet sind, interessieren die Archivare. Die ehrenamtlichen Spurensucher können oft Hinweise auf die Umgebung geben, in der die Bilder entstanden sind. „Bei unserem letzten Treffen hatten wir ein Bild vom Wertheimer Bahnhof. Dabei fiel dann das sogenannte ,Pinkelhaus’ auf, das seinerzeit dort stand“, berichtet Winkler.
Ein anderes Mal habe sie das Foto einer Männergruppe präsentiert: „Für mich trugen alle einfach irgendeine Mütze. Die Herrschaften haben sofort erkannt, dass die Männer Schiffermützen trugen – es handelte sich also um eine Gruppe von Schiffern.“
Neben solchen Details dokumentiert das Archiv für die Stadtgeschichte interessante Erinnerungen, die den Zeitzeugen durch die Aufnahmen ins Gedächtnis gerufen werden.
So sprudeln die Geschichten auch, während die Senioren das Gruppenbild vor dem Schuhgeschäft betrachten: Das Geschäft lag in der Eichelgasse unweit des Marktplatzes. Alle drei erinnern sich, dass der Sohn des Schuhverkäufers, der die Marke Salamander im Angebot hatte, in der Schule immer „Lurchi“ gerufen wurde. „Das hat ihm gar nicht gefallen“, kommentiert einer der Herren.
Sie berichten weiter, dass es neben Schuh-Schäfer noch zwei weitere Schuhhändler in der Innenstadt gab, außerdem zehn Bäckereien. „Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen“, bemerkt Karlheinz Sommer.
Fotosammlung Wehnert – historische Detektivarbeit
Die Sammlung Wehnert, die über drei Generationen ab 1880 entstand, umfasst über 6500 Fotografien auf Glasplatten, 180 000 Negative auf Filmstreifen, 15 000 Dias und 30 laufende Meter Positivordner.
Die Bilder zeigen die Geschichte Wertheims, dokumentieren Industrie- und Handwerksbetriebe sowie das gesellschaftliche Leben.
Hans Wehnert hatte den Fundus vor etwa zehn Jahren dem Staatsarchiv als Schenkung im Falle seines Todes übergeben, um die Aufnahmen für die Öffentlichkeit verfügbar zu halten. Die Mitarbeiter des Archivs arbeiten fortwährend an der Digitalisierung der Bilder-Sammlung.
Da die meisten Fotografien weder zeitlich datiert noch inhaltlich beschrieben sind, widmen sie sich zudem der Spurensuche.
Neben der Recherche mit den Zeitzeugen der Arbeitsgruppe setzen die Mitarbeiter des Archivs auf die Unterstützung der Öffentlichkeit. Regelmäßig veröffentlichen die Fränkischen Nachrichten für das Staatsarchiv ungeklärte Aufnahmen von Örtlichkeiten, Gegenständen oder Gebäuden. In vielen Fällen halfen die Leser, einem Bild sein Geheimnis zu entlocken.
Weiteres Element der Recherche sind Workshops. In der ersten Auflage im März 2023 begeisterten sich zahlreiche Teilnehmer an der historischen Detektivarbeit.
Der nächste Workshop „Fotographische Schätze: Die Glasplatten des Fotoarchivs Wehnert“ findet am Freitag, 7. November, von 17 bis 19 Uhr in den Räumen des Archivverbunds Main-Tauber in Bronnbach statt. Eingeladen sind dazu nicht nur Zeitzeugen, sondern auch andere geschichtlich Interessierte. kabu
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