Wertheim. Gegen Ende des Tagespraktikums passiert es dann doch: „Autsch!“ Ein Teil der Glasröhre, eben noch in der Flamme, ist höllisch heiß. Der Daumen meiner linken Hand, mit der ich etwas ungelenk den Rohling drehe, kommt der heißen Zone zu nahe. Schnell zum Kühlschrank. Im Gefrierfach finde ich Gel-Kühlakkus, die jetzt helfen müssen, eine größere Brandblase zu verhindern und den Schmerz zu lindern.
Ich bin zu Gast bei Winzer Laborglastechnik im Wertheimer Industriegebiet in Bestenheid, wo sich das Glasgewerbe in der Nachkriegszeit etablierte. Die vorübergehenden Kollegen hatten mich gewarnt und dankenswerter am Anfang des Arbeitstages auf das Gefrierfach hingewiesen. Hitze ist naturgemäß unerlässlicher Bestandteil der Arbeit des Glasbläsers.
Olaf Roth ist ein alter Hase, was das Glasblasen angeht. Heute ist er sozusagen mein Mentor und erklärt mir die Grundlagen des Handwerks. Die wichtigsten Regler am Brenner, der auch Lampe genannt wird: Gas und Sauerstoff. Unterm Tisch ein Pedal, mit dem man die Flamme ein- oder ausschaltet. „Nie in die Flamme greifen“, warnt er: „Die hat fast zweieinhalbtausend Grad.“ Und vor allem: eine Schutzbrille tragen. Die beugt Gefahren vor, und mit ihr kann man die Hitzezonen der Flamme auseinanderhalten.
Doch bevor es an die Flamme geht, braucht es Rohmaterial für den alten Grünschnabel. In einem Lagerraum stapeln sich die Kartons, gefüllt mit Röhren, Kapillaren und Stäben. Um die 400 verschiedene Varianten stehen zur Auswahl. Ein paar sind wertvoller als andere. Wir entscheiden uns für eine günstigere Variante aus Fernost, um den Ausschussschaden zu begrenzen.
Glas unter Hitze wie Sirup oder Honig
Jetzt geht es ans Spitzenziehen. Olaf Roth greift sich die beiden Enden eines Glasrohrs und hält es mittig in die Flamme – bei gleichmäßigem Drehen. Es ist eine der ersten Arbeiten, die ein Auszubildender lernt. Die Mitte des Rohrs verfärbt sich gelb. Das Material dort ist nun weich wie eine Nudel und kann abseits der Flamme unter weiterem Drehen behutsam auseinandergezogen werden. Olaf Roth trennt die Spitzen, indem er das Glasrohr in der Mitte noch einmal in die Flamme hält und auseinanderzieht. Fertig sind die ersten zwei Stücke, an denen ich mich heute versuchen will.
Zuerst soll ich einen Tropfen herstellen. Ich trete aufs Pedal, und der Brenner speit mit Vehemenz das Feuer aus. Ich greife mir mit der linken Hand eine Kapillare und halte das Ende in die Flamme. Schon nach wenigen Sekunden glüht das Glas und verformt sich. Zunächst gleicht es einer Lavamasse, bald fießt das Material wie „Sirup oder Honig“, beschreibt es Olaf Roth. Um den gewünschten Tropfen zu bekommen, muss das Teil rechtzeitig aus der Hitze heraus.
Arbeit gibt es zur Genüge
Diesen Moment verpasse ich grandios: Der Tropfen fließt nicht langsam, der Schwerkraft folgend nach unten, sondern klatscht auf den Tisch. Beim zweiten Versuch klappt es schon besser, allerdings gleicht das Ergebnis weniger einem Tropfen, sondern einer futuristischen Form aus einem Gemälde von Salvador Dalí.
Mit etwas Fantasie könnte man es als Kunst interpretieren. Nach und nach komme ich einem vernünftigen Ergebnis näher, und schließlich bin ich zufrieden.
Zwischendurch kommt Glasbläser Frank Krause vorbei auf der Suche nach einem speziellen Teil. Er betreibt in der Nähe eine Werkstatt und gehört zu den erfahrensten seiner Zunft in Wertheim. Als Lehrer an der Wertheimer Glasfachschule hat er zehn Jahre lang den Nachwuchs ausgebildet.
Fragt man ihn nach den Vorzügen des Berufs, stellt er vor allem heraus: Meist ist es keine monotone Arbeit. In den Wertheimer Glasbetrieben wird wie auch bei Winzer Laborzubehör in Sonderanfertigung hergestellt. Handarbeit sei bei geringen Stückzahlen günstiger als eine maschinelle Fertigung, die hohen Kapitaleinsatz erfordere, so Frank Krause. Arbeit gibt es zur Genüge. Glasbläser sind gefragt.
Für gelungenes Handwerk braucht es allerdings jahrelange Erfahrung. Olaf Roth sagt, das Gefühl, endlich alles richtig zu können, habe er erst nach zehn Jahren gehabt: „Da hat’s klick gemacht.“
Der Beruf Glasbläser
Unter dem Begriff Glasbläser verbergen sich verschiedene Berufe. In der Beschreibung des klassischen Glasbläsers der Agentur für Arbeit heißt es: „Glasbläser/innen der Fachrichtung Glasgestaltung fertigen künstlerische oder dekorative Glasartikel, wie Vasen, Trinkgläser, Obstschalen, aber auch Fenstergehänge und Tierfiguren, nach eigenen Entwürfen oder vorgegebenen Mustern an. Sie erwärmen Rohmaterialien wie Glasröhren und -stäbe über der Flamme eines Gasbrenners, bis das Glas formbar wird.“
Im Glasgewerbe werden in der Ausbildung allerdings unterschiedliche Fachrichtungen angeboten: Auf der Liste des Beruflichen Schulzentrums Wertheim stehen folgende Berufsbilder: Flachglastechnologe, Glasapparatebauer, Leuchtröhrenglasbläser, Thermometermacher, Verfahrensmechaniker Glastechnik.
Azubis aus ganz Deutschland, zum Teil auch aus dem deutschsprachigen Ausland, kommen in die Main-Tauber-Stadt, um den schulischen Teil ihrer Lehre zu absolvieren. Der Unterricht erfolgt im Blockunterricht, das heißt die Auszubildenden kommen dreimal pro Schuljahr für vier bis fünf Wochen in die Berufsschule nach Wertheim. Laut dem Bundesarbeitgeberverband Glas und Solar gibt es fünf weitere Glasfachschulen in Deutschland.
Wertheim gilt als Zentrum der Glasindustrie. Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelten sich hier etliche Betriebe aus Thüringen an, die vor dem Regime in der sowjetischen Besatzungszone geflohen waren.
Die Technik des Glasblasens soll schon schon vor über 2000 Jahren entstanden sein. Laut verschiedenen Quellen entdeckten in der Region Sidon-Babylon syrische Handwerker zwischen 27 vor Christus und 14 nach Christus mittels eines Rohres das Glasblasen. wei
Spezialanfertigungen
An einer Spezialanfertigung arbeitet Michael Winzer am Tisch nebenan. Er fertigt eine Vigreux-Kolonne an, einen umwandeten Kühlzylinder. Mit dem Stift markiert er Stellen, die er später eindrückt. Mehrere Stunden wird er insgesamt benötigen. Etliche hundert Euro zahlt der Kunde dafür.
Ich starte mit meiner zweiten Spezialanfertigung. Eine Kugel soll es werden. Unter ständigem Drehen erhitze ich das vorgefertigte Stück und nehme es aus der Flamme. Vorsichtig setze ich das Endstück an meine Lippen. „Nicht wie ein Ochse reinblasen“, hatte mich Olaf Roth noch gewarnt. Mit dem ersten Pusten platzt die Glaskugel.
Nach und nach nähere ich mich einem besseren Ergebnis, doch perfekt rund wird die Kugel nicht. Egal, ich nehme sie mit nach Hause, genauso wie die teils missglückten Tropfen. Olaf Roth formt an der Flamme noch Haken an die Unikate, so dass ich sie aufhängen kann.
Mit nach Hause nehme ich auch die kleine Brandblase am Daumen. Nicht der Rede wert. Nach einem Tag bildet sich Hornhaut, die sich bald lösen wird. Vielleicht erinnere ich mich an Weihnachten wieder daran, wenn am Christbaum die leicht unförmige Glaskugel hängt.
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