FN-Serie Industriegebiet Bestenheid

Herzkammer der Wertheimer Industrie

Im ersten Teil einer FN-Serie über das Bestenheider Industriegebiet geht es um die Ursprünge der Glasindustrie. Hier schlug das Herz, das die Unternehmen mit dem Vorprodukt versorgte.

Von 
Gerd Weimer
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In Bestenheid entstand nach dem Krieg rund um die Glashütte (oben links mit den Schornsteinen) der Kern der Wertheimer Glasindustrie. Rechts die Gebäude der Firmen Brand und Schuller, links unten das frühere Gaswerk. © Staatsarchiv Wertheim/Wehnert-Sammlung

Bestenheid. Die Schmelzwannen sind längst demontiert. Dort, wo einst unter einer Temperatur von mehr als 1000 Grad Quarzsand, Kalk, Dolomit sowie Soda und Sulfat zu einem Brei von flüssigem Glas vermischt wurden, herrscht Leere. In der Tiefe sind noch Reste des Gemäuers zu erkennen, welches die riesigen Gefäße einfasste.

Kaum zu erahnen, dass in diesem Gebäude früher das Herz der Wertheimer Glasindustrie schlug. Die Glashütte in Bestenheid versorgte Unternehmen reihum mit dem unerlässlichen Vorprodukt. Sie bot hunderten Leute Arbeit. Nicht selten waren dort zwei Generationen der gleichen Familie beschäftigt.

Binnen weniger Monate gelingt den Beteiligten nach dem Weltkrieg ein einzigartiger Kraftakt, der die beschauliche Stadt an Main und Tauber in ein neues Zeitalter katapultiert. In Wertheim hat es bis dahin kaum nennenswerte Industrie gegeben.

Ein Arbeiter an der Glasmacherpfeife. © Udo Braun

Glashütte unverzichtbar

Glasunternehmen aus Thüringen suchen wegen der sowjetischen Wirtschaftspolitik in der Ostzone eine neue Heimat. Aus diesem Netzwerk heraus bildet sich eine Gruppe, welche die Ansiedlung der Glasindustrie in Wertheim forciert.

Der Bau der Glashütte ist für das Vorhaben unerlässlich. Mit Hilfe staatlicher Stellen und privater Banken ist die Finanzierung des Projekts schließlich gesichert.

Gründungsgesellschafter des Unternehmens sind die Gebrüder Fritz und Josef Friedrichs, Carl Zitzmann, Rudolf Brand und Hans Löber – allesamt hoch qualifizierte Experten, die ihre Geschäftstätigkeit aus Thüringen nach Wertheim verlagert hatten.

Die Stadt hat die etwa vier Hektar große Fläche, auf der das erste Bestenheider Industriegebiet entsteht, für eine Mark pro Quadratmeter verkauft – die Zahlung wurde für drei Jahre bei einem Zinssatz von fünf Prozent gestundet.

Blick in die Glashütte in der heutigen Zeit: Schmelzöfen und -wannen sind längst demontiert © Gerd Weimer

Kurz vor Weihnachten 1949 findet das Richtfest statt. Wie Hans Löber, der das Glaswerk führte, in einer Abhandlung zwei Jahrzehnte später schrieb, konnte ab März des folgenden Jahres „das Feuer im Generator angeschürt und der Ofen angetempert werden“.

Erwartungsfroh habe man auf die erste Schmelze gewartet, so Löber. „Am 19. April, morgens um 5 Uhr, stand der Betriebsleitung und den ebenso gespannt wartenden Glasmachern und Rohrziehern ein gut durchgeschmolzenes, blasenfreies, gut eingefärbtes Glas zur Verfügung“, schildert Löber den Meilenstein beim Aufbau der Wertheimer Glasindustrie.

Fortan brennen die Öfen kontinuierlich. 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Auf dem Betriebsgelände des Glaswerks kommen Gebäude für die Lagerung der Rohstoffe, die Fertigung von Glasprodukten sowie die Verwaltung dazu.

Heiß, laut und staubig ist es in der Glashütte. Die harte Arbeit fordert viel Kraft und Ausdauer von den Beschäftigten, die teils in der neuen Wohnsiedlung jenseits der Bahnlinie untergebracht sind. Neben den zugezogenen Fachleuten aus Thüringen, die gekommen waren, stehen immer mehr Einheimische als angelernte Fachkräfte in der Glashütte und den anderen Betrieben in Lohn und Brot. In unmittelbarer Nähe des Glaswerks siedeln sich Unternehmen wie Brand, Schneider, Rauchhaus und Alfi an. So entstehen hunderte weitere Arbeitsplätze auf dem Areal um das Glaswerk, für das bald ein großes Gemengelager in die Höhe gebaut wird. Über das Kern-areal hinaus wächst das Industriegebiet vor allem mit der Ansiedlung des Schuller-Werks, das 1953 den Betrieb aufnimmt.

Röhrenzieher bei der Arbeit im Glaswerk. © Udo Braun

Zu eng auf dem Gelände

Jahrzehnte später wird es für einige Unternehmen zu eng auf dem Gelände, durch das die Ferdinand-Friedrich-Straße führt. Die Firma Rudolf Brand zieht in den 1980-er Jahren weiter in das neue Industriegebiet Richtung Grünenwört. Beim Glaswerk steigt aus wirtschaftlichen und technischen Gründen Schott (Mainz) in das Unternehmen ein. Heute gehört der Betrieb zu DWK Life Sciences und residiert in der Otto-Schott-Straße. Der Schmelzbetrieb in der Herzkammer des alten Industriegebiets wird 1995 eingestellt.

Bei der Besichtigung des Glashüttengeländes diese Woche weist ein Begleiter auf die Umrisse der früheren, riesigen Kamine hin, die noch zu erkennen sind. Der Mann verdiente sich vor Jahrzehnten als Schuljunge samstags ein üppiges Taschengeld. Klein und schmal genug, passte er in den Schlot und verdingte sich als Reiniger.

Blick in die Schmelzwanne. © Udo Braun

Der Junge, der es später zum Unternehmenschef brachte, spielt im zweiten Teil der FN-Mini-Serie eine Rolle, wenn es um die Zukunft des mittlerweile fast verödeten Industriegebiets rund ums Glaswerk geht.

Redaktion Reporter Wertheim

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