Über 80 Sänger im Kirchenraum – und doch ein extrem differenzierter, ja feinsinniger Klang: Das Konzert des „World Youth Choir“ unter dem Motto „Lux“ (lat.: Licht) übertraf sämtliche Erwartungen.
Weikersheim. Ein wirklich riesiger Klangkörper – junge Sänger und Sängerinnen aus der ganzen Welt – das suggeriert erst einmal „Stimmgewalt“. In der Weikersheimer Stadtkirche St. Georg am Samstagabend das Gegenteil: Ein Chorprogramm, das die Jahrhunderte verbindet, die Möglichkeiten der menschlichen Stimme(n) auslotet und das vor allem Ausdruck von Poesie und Sanftheit ist.
Vom anonymen Cantus Romanus über die deutsche Romantik (Johannes Brahms, Robert Schumann) bis hin zu zeitgenössischen Werken: Es war ein vielschichtiges Programm, das Chorleiter Professor Jörn Adressen (Salzburg) zum Thema „Lux“ zusammengestellt hat. Im Kern ist es Kirchenmusik – doch der Begriff führt irgendwie dann doch nicht ganz auf die richtige Spur. Es war eine (im ganz positiven Sinne) extreme Bandbreite, die die Konzertbesucher zu hören bekamen. Und das nicht nur historisch, sondern auch kompositorisch. Man kann sogar sagen: Es kam teils „Unerhörtes“ zur Aufführung. Viel mehr jedenfalls, als man erwarten konnte.
Sphärische Klänge
Nehmen wir Peteris Vasks „Mate Saule“: Der lettische Komponist malt mit den Stimmen einen Sonnenaufgang – oder was immer man sich in dem schwebend-flirrenden Satz vorstellen mag, der von Naturund Welterleben erzählt. Und schon zu Konzertbeginn zeigt sich, zu welcher zurückhaltender Begeisterung der erst vor wenigen Tagen zusammengestellte „Youth Choir“ fähig ist. Die über 80 Stimmen ordnen sich einem sphärischen Gesamtbild unter, das miterleben und staunen lässt.
Brahms Motette „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen?“ (op. 141, No.1) – eine interessante Bibelstellen-Kompilation, die von den hohen exegetischen Fähigkeiten Brahms’ zeugt: „Warum?“ – das ist die kompositorisch fast barock wirkende Frage nach dem Sinn des Leidens. Im Wesentlichen bleibt es aber bei der Frage an sich; ohne billig erscheinende theologische (Auf-) Lösung. Das mag inhaltlich vielleicht nicht jedem gefallen, macht Brahms aber sehr modern.
Auch Schumanns „An die Sterne“ lässt sich deutungsmäßig überhaupt nicht in ein christliches Korsett pressen. Durchaus eher selten zu hören sind die Chorwerke Schumanns, der vor allem über sein Liedschaffen bekannt ist. Pure weltlich-romantische Blicke in den dunklen Wald mit aufblitzenden Lichtern – ist Schumann also hier bloß psychologisch? Man weiß es nicht, denn der Blick ins Transzendente verbietet sich eben auch nicht. Schon gar nicht bei einem Konzert in einer Kirche, wo die Abendmahlszene und der hebräische Gottesname im goldenen Strahlenglanz über den Ensemblemitgliedern zu schweben scheinen.
Ein vielschichtiger Klangteppich ist das Werk „Northern Lights“ des Zeitgenossen Ola Gjeilo (Norwegen). „Pulchra es, amica mea, et suavis et decora“ – der lateinische Text bezieht sich auf das biblische, gerne König Salomo zugeschriebene, Hohelied. An die „wunderschöne Freundin“ gerichtet werden die Zeilen schon seit der Gregorianik intensiv „bedichtet“.
Durch Intensives zur Leichtigkeit
Oft sieht man die offensichtliche Liebes- und Eros-Lyrik als Allegorie zwischen Christus/Gott und Israel/Kirche/Seele als Braut. Wie auch immer man darauf blicken mag: Schönheit oder Liebesakt werden metaphorisch besungen – und das im Duktus der alten Kulturen des Vorderen Orients; bei Gjeilo (und dem „Youth Choir“) reine Poesie. Eric Whitacre, ebenfalls ein zeitgenössischer Komponist, ist weltweit durch seine Arbeit mit virtuellen Chören bekannt geworden – der Singort: das Internet. In Weikersheim zu hören Whitacres „Saint Chapelle“. Hier betritt ein Mädchen eine Kapelle und hört die in Buntglas der Fenster dargestellten Engel leise das Sanctus singen.
Schon bezogen auf den Stimmumfang und „Richtungsänderungen“ für absolute Profis komponiert, zeigt sich vor allem bei solchen leicht wirkenden Stücken die ambitionierte wie erfolgreiche Arbeit von Chorleiter Jörn Adressen mit seinen jungen Projektmusikern. Alles wirkt fast schon aufnahmereif – mindestens ist sie gerade in der Leichtigkeit der Aufführung (hinter der natürlich sehr viel Arbeit steckt) beeindruckend. Zugabe und Tutti-Stück: „Der Mond ist aufgegangen“ von Johann Schulz.
Von Matthias Claudius als „Abendlied“ in Text gesetzt kennt man Schulz (bis auf sein Weihnachtslied „Ihr Kinderlein, kommet“) in der Breite kaum noch. Schulz selbst: „In allen diesen Liedern ist und bleibt mein Bestreben, mehr volksmäßig als kunstmäßig zu singen, nämlich so, daß auch ungeübte Liebhaber des Gesanges, sobald es ihnen nicht ganz und gar an Stimme fehlt, solche leicht nachsingen und auswendig behalten können.“
Unser „kranker Nachbar auch“
Das Konzept funktioniert auch in Weikersheim: Chor und absolut begeisterte Konzertbesucher singen zum Abschluss zusammen. Blickt man auf den in vielen Details international angelegten Charakter des Konzerts, wird beim Claudius-Text ganz deutlich, was den „World Youth Choir“ zum globalen Symbol für Frieden, Einheit und Harmonie macht: Jeder Mensch möchte in seiner Nacht „ruhig schlafen“ – und unser „kranker Nachbar“ auch.
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