Weikersheim. Eine besondere Stimmung herrschte in der Tauberphilharmonie: Da war große Begeisterung, weil überhaupt noch etwas stattfinden konnte. Und da war Traurigkeit, weil sich das Publikum auf einen großen, dichten Konzertabend gefreut hatte – und am Ende zwei „halbe“, zeitreduzierte Auftritte stattfinden mussten. Den Grund zu nennen, will man eigentlich vermeiden, weil man ihn so satt hat – deshalb spricht man ja mittlerweile von der „Situation“.
Dass der Auftritt von Max Herre und „Takeover“ überhaupt stattfinden konnte, nötigt höchsten Respekt für das engagierte Team der Tauberphilharmonie ab: Hunderte Kartenkäufer mussten im Vorfeld angerufen und über die plötzlich zwei Termine informiert werden. Ein Mammutjob. Doch man hat es hinbekommen, was ein Glück.
„Spielen wir halt zweimal, wir sind ja eh hier“, ulken die Musiker. Ein wenig Galgenhumor steckt da auch drin, denn der Tourstart in Weikersheim markiert wohl gleichzeitig ein unerwartetes Ende. Andernorts ist man möglicherweise nicht ganz so flexibel oder hat gar nicht die Möglichkeiten, geforderte Auftrittsbedingungen zu schaffen.
In sanften Wellen
Max Herre, der „Rapper“, seine Begleitsängerin Ray Lozano, ein Streichquartett um Miki Kekenj, erweitert um Harfe und Klarinette, that’s it. Wer Herres „MTV Unplugged“-Konzert kennt: So ungefähr klingt es, nur eben noch einmal reduzierter und klassischer. „Wolke 7“: „Dinge kommen, Dinge gehen; Sinn und Unsinn des Lebens/Kopf in den Wolken, Kopf im Sand; Hoch geflogen und so oft verbrannt“. Der Kontrabass drückt das Ganze in sanften Wellen über den Bühnenrand in den Saal hinaus. Und so soll es auch weitergehen: Ein Soundscape, der dem Zuhörer schnell die Augen zuklappt und vor allem hören lässt. Der Sprechgesang Herres wird von Lozano umwoben, Streicher, Harfe – es hat etwas Seraphisches, von den Engeln eben. Die Texte sind eh voller Chiffren und durch die rhythmischen Verschiebungen kaum wirklich zu verstehen. Die wahren Fans kennen trotzdem jede Zeile und singen leise mit. Das hat etwas, wirklich.
Zeitreisen sind in diesen beiden Konzerten drin. Zurück zu „Anna“, über zwei Jahrzehnte, als es noch verdammt cool war, dass so ein Song aus Süddeutschland kam und man selber dort lebt. Das hatte was von Heimatsound ohne Tümelei, das war neu und hat auch heute noch so etwas Heimeliges, dieser Liebesflash dort unter dem „Vordach des Fachgeschäfts“, dieses: „Immer wenn es regnet, muss ich an dich denken“.
Immer informiert sein
Zeilen wie „Die Tasche in der Hand, stand sie an der Wand“ geben einen Einblick, wie Herre es macht: Mit Binnenalliterationen auf den Vokalen „a“ und „i“, das Ganze als Chiasmus X-förmig um die Worte Hand/stand aufgebaut, plus einem Endreim mit „Wand“. Nun machen lyrische Stilmittel noch keine große Poesie. Das Setting der Szene ist ja durchaus banal. Aber unterm Strich, beim Hören, wird es gerade durch die Spannung zwischen Alltagsszene (Ich trifft Frau mit dunklen Augen) und Rap-Lyrik-Konzept interessant.
Und dann kommt’s: „Du bist hinten wie vorne A-N-N-A“. Man kann schon erklären, was daran toll ist, muss es aber nicht. Das schöpft aus dem Dada, hat etwas unbedingt Körperliches und weckt Sehnsüchte: Warum passiert sowas nur dem und nicht mir? Und wenn es mir passieren würde – hätte ich „Anna“ mit dem Bus wegfahren lassen?
Zitate aus einer wilden Zeit
So reimt sich Max Herre in Weikersheim durch den Abend, setzt seine Wort- und Satz-Reize. Das exzellente Klassikensemble ist keine „Begleitband“, sondern auch in Pop und Jazz zuhause, das merkt man zu jeder Zeit. Zwei Intermezzi überlässt Herre dem Sextett und auch darüber ließe sich viel erzählen: Das abgenudelte „Gymnopedie“ von Erik Satie und ein (das) Entreacte von Jacques Ibert, das streift eine spannungsreiche Musikzeit um die vorige Jahrhundertwende.
Das künstlerische Multitalent Jean Cocteau wurde Ende des Ersten Weltkriegs zum Wortführer der Komponistengruppe „Les Six“. Man war gegen Wagner und Debussy, baute Elemente aus Jazz und Varietémusik ins Neoklassizistische ein, arbeitete mit Pablo Picasso als Bühnen- und Kostümbildner zusammen, man wurde surreal und spielte mit dem Sexuellen. Eine wilde Zeit – und „Takeover“ zitiert diesen Kosmos jetzt und hier auf die Bühne einfach hin. Großartig, selbstverständlich und hiphopmäßig halt mal so gedroppt.
Am Ende eine Zugabe, die spontane Tränen erzeugt: „Das Wenigste“ heißt die Nummer und erzählt vom Verlieben und Trennen und Wieder-Zusammen-Finden (so wie letztlich auch der Song „1ste Liebe“). „Du hast mich gesehen/An meinem blinden Punkt/Das Wenigste von mir...“ – das ist wirklich der Hammer, dieses Graderaus-Erzählen, worum es in Beziehungen doch immer wieder geht: Um das Ranlassen, Selbst-Offenbaren und die Hoffnung, dass man „so“ genommen wird und auch aus dem scheinbar Verbrannten wieder etwas werden kann.
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