Odenwald-Tauber/Stuttgart. „Jetzt reicht’s“ tönte es aus 3500 Kehlen über den Stuttgarter Schlossplatz – untermalt von Trillerpfeifen. Angesichts der Stimmgewalt sowie der Vehemenz könnten die Schallwellen bis ins Berliner Regierungsviertel schwingen und dem Gesundheitsminister die Ohren klingen lassen. Der Ärzteverband Medi organisierte mit zehn weiteren Berufsverbänden diese Protestaktion aufgrund zahlreicher politischer Fehlentscheidungen – so der Tenor.
„Gefühl von Geschlossenheit“
Mittendrin in dieser Menge von Hausärzten, Fachärzten, Psychotherapeuten, medizinischem Fachpersonal und „Wutärzten“ befand sich auch eine Gruppe aus der Region. Dr. Sebastian Gerstenkorn, Vorsitzender der Kreisärzteschaft Tauberbischofsheim, freute sich, mit einem vollen Bus Teil dieser großen Solidaraktion zu sein. „Das suggeriert ein Gefühl von Geschlossenheit“, beschrieb der Königheimer Hausarzt sein Empfinden. In den Praxen seien die Ärzte Einzelkämpfer, stünden den Attacken der Politik allein gegenüber, denn diese „meint es nicht gut mit uns“. Sie gängle, erschwere, schaffe Hürden, anstatt für attraktive Bedingungen zu sorgen und wische jeglichen Protest mit dem „Totschlagargument“, die Ärzte verdienten genug, beiseite.
Überalterung, Praxisschließungen, Wartezeiten, ineffiziente Digitalisierung, Bürokratismus, Vollkaskomentalität und fehlendes Gesundheitsverständnis von Patienten, eine antiquierte Gebührenordnung – die Kritikpunkteliste ist lang, unabhängig ob man sich mit Haus-, Fachärzten oder Psychotherapeuten unterhält. Alle wiederholten diese wie ein wiederkehrendes Mantra und äußerten ihr Unverständnis über Politiker, die auf eine Berufsgruppe, die am Limit arbeite und von der es ohnehin zu wenig gebe, „draufhaut.“
„Steckt ein Ziel dahinter, uns den Garaus zu machen oder ist es Naivität?“, fragte der Külsheimer Hausarzt Dr. Volker Dietz. Er befürchtet, dass sein Beruf nicht nur für die aktuell arbeitenden, sondern auch für niederlassungswillige Ärzte immer unattraktiver werde. Man wolle für Patienten da sein, sitze mit ihnen in einem Boot. Besonders seit Abschaffung der Neupatientenregelung sei die Verfügbarkeit der Fachärzte deutlich zurückgegangen. Positiv äußerte er sich über die Unterstützung seitens der Kommune, der es wichtig sei, den Praxissitz und somit die Daseinsfürsorge vor Ort zu erhalten. „Da bekomme ich die Wertschätzung, die ich mir wünsche.“
Durchschnitt bei 56 Jahren
Doch sei das nicht überall so, weiß Dr. Gerstenkorn. Oft wachten Kommunalvertreter erst auf, wenn die langjährige Praxis vor der Schließung stehe. „Sie wissen doch, wie alt ihr Arzt ist“, wundert er sich. Der Durchschnitt der niedergelassenen Ärzte liege landesweit bei 56 Jahren. Allein die finanzielle Förderung des hausärztlichen Nachwuchses greife zu spät. Bis diese sich niederlassen könnten, praktizierten die Babyboomer längst nicht mehr.
Auf medizinische Versorgungszentren (MVZ) mit angestellten Ärzten zu setzen, sei ein Trugschluss und gewährleiste keine gleichwertige Versorgung wie beim langjährigen Hausarzt, der oft ganze Familienbiografien kenne, erklärte Dr. Florian Gnadt, Hausarzt in Tauberbischofsheim. „Ich liebe das.“ Im MVZ treffe der Patient immer wieder auf andere Ärzte, „man fängt von vorn an“, so dass der Angestellte zwangsläufig nur einen Bruchteil des Hausarztes schaffe. Eine weitere Schwächung der ambulanten Patientenversorgung, der es mit diesem Protest entgegenzusteuern gelte, betonte Dr. Rainer Grabs, Internist und Sprecher von Medi Tauberbischofsheim. Er hoffe, dass dieses Zeichen der Solidarität Resonanz finde. „Es brennt uns allen der Kittel“, beschrieb er die unbefriedigende Lage sowie den Umgang der Politik mit dieser. „Wir haben kein Streikrecht und auch keine Lobby im Gegensatz zu Lokführen oder Piloten“, insofern sei es unerlässlich, den Schulterschluss zu wagen und Geschlossenheit zu demonstrieren.
Rund um die Uhr im Einsatz
Während anderswo die 4-Tage-Woche diskutiert werde, garantiere man eine Versorgung auch zu sprechstundenfreien Zeiten, rund um die Uhr, 24/7. Doch wolle hier der Arbeitsminister an den Stellschrauben drehen, was weitere Arbeitsbelastungen bedeute. Das Hamsterrad drehe sich immer schneller. Die vom vorherigen Gesundheitsminister eingeführte Neupatientenregelung war ein „Geben und Nehmen“, was eine Erhöhung der Sprechstunden von 20 auf 25 bedeutete.
Im Gegenzug wurden finanzielle Anreize für die Aufnahme neuer Patienten geschaffen. Diese wurden nun zurückgenommen, die Mehrarbeitsstunden indessen nicht. Der „Hausarztvermittlungsfall“, wenn man den Patienten innerhalb bestimmter Frist zum Facharzt vermittle, kompensiere diesen Wegfall nicht. Schlimmer sei jedoch, dass der Patient den dringenden Termin nicht bekäme. Die Verfügbarkeit leide deutlich, niemand könne erwarten, dass der Facharzt für umsonst arbeite, ergänzte Dr. Dietz.
Konform ging hier auch Dr. Marie Catherine Brümmer aus der Römerstadt Osterburken. Die Abschaffung der Neupatientenreglung schlage auf hausärztliche Diagnostik sowie Arbeitgeber durch. Drei Monate Wartezeit seien keine Seltenheit, die abschließende Klärung verzögere sich, Patienten seien länger krankgeschrieben.
Auch Psychotherapeuten spürten die Abschaffung, wenn medikamentöse Mitbehandlungen erforderlich seien, die durch Psychiater, Neurologen, Kardiologen erfolgen müssten, berichtete Psychotherapeutin Annabell Müller aus Bad Mergentheim. Aktuell habe sie bei Neuaufnahmen eine Wartezeit von rund zehn Monaten. Übereinstimmend mit den Ärzten kritisierte sie die Hürden im niedergelassenen Bereich, „den Papierkrieg, der Zeit für Patienten raubt“, die hinterherhinkenden Honorare oder die Anforderungen bezüglich der Telematikinfrastruktur. In die Selbständigkeit zu gehen, werde unattraktiv. Das bestätigte auch Dr. Carsten Köber aus Bad Mergentheim. Finanzielle Anpassungen, Reduzierung der Bürokratie, keine „übergestülpte drittklassige Soft- und Hardware“ wären ein Schritt in Richtung Patientenversorgung. Die knappe Versorgungsstruktur sei das „zentrale Problem.“
Sorge um Patienten spürbar
Die Sorge um die Patienten war durchweg spürbar. Sätze wie „Ich bin gerne Arzt“ oder „Es ist ein schöner Beruf“ zeugen von Leidenschaft und Empathie der von politischer Seite nüchtern als „Leistungserbringer“ Bezeichneten.
Dass sie diese Leistung erbringen, verdeutlichte Dr. Karsten Braun aus Wertheim, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, denn „die niedergelassenen Ärzte versorgen an einem Tag so viel Patienten wie ein Krankenhaus in einem Jahr. Eine Wertschätzung, die sichtlich guttat.
Wenn sich nichts ändere, so die Vorsitzende des Hausärzteverbands, Professor Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth, werde dies die letzte Generation an Niedergelassenen sein. „Während andere kleben, bluten wir aus“, verwies sie auf die prekäre Lage.
Eine qualitativ hochwertige, wohnortnahe, ambulante Versorgung gehe nicht ohne niedergelassene Ärzte, erklärte Dr. Florian Grabs, Mitglied von Young Medi. „Wir wollen unser Personal gut bezahlen, haben keinen Inflationsausgleich, eine 27 Jahre alte Gebührenordnung und arbeiten am Quartalsende für umsonst. So wagten nur wenige das Risiko in die Selbstständigkeit, obwohl gerade hier die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein Plus sei.
Eine wohnortnahe Versorgung wünschte sich auch eine chronisch kranke Patientin aus Buchen, die „große Sorge“ habe, ob sie künftig noch Fachärzte vor Ort finde. Fahrten nach Heidelberg oder Mannheim seien kaum zu bewältigen.
Lob für Angestellte
Apropos Personal gut bezahlen – durchweg lobten alle Ärzte ihre medizinischen Fachangestellten, die helfen, untersuchen, trösten, beschimpft werden, indes in Berlin nicht wahrgenommen würden. Während der Pandemie kamen die Bonuszahlungen von deren Chefs.
Die Solidarität aller an der Patientenversorgung Beteiligten, der Wille für diese da zu sein, dass sich etwas ändern müsse, war deutlich vernehmbar und wird kaum mit diesem Protest enden. Zu bestimmt klangen die Worte „Jetzt reicht’s“ sowie „Ich freue mich schon auf Berlin.“
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