Main-Tauber-Kreis. Impfen, impfen, und noch einmal impfen. Die Aufforderung der Politik ist die eine, die Kapazität der Hausarztpraxen, die seit der Schließung der Impfzentren neben den mobilen Teams zuständig sind, die andere Seite der Medaille. Schließlich warnten Experten bereits im Sommer vor einer vierten Corona-Welle im Herbst und sagten einen harten Corona-Winter vorher.
Jetzt ist sie da, die Welle. Und auch diejenigen, deren zweite Impfung ein halbes Jahr her ist, sind da und möchten ihre Drittimpfung, wenige die Erst- oder Zweitimpfung. Erst Boostern bringe einen richtig guten Schutz, heißt es, die ersten zwei Pikser dienten der Grundimmunisierung. Wie die wachsende Infektionszahl und der Ansturm aufs Impfen zu stemmen sind und welche Erfahrungen sie machen, berichten Hausärzte und Ärztesprecher aus der Region.
Telefone stehen nicht still
„Wir haben noch nie so viele positive Corona-Abstriche gemacht wie momentan“, verdeutlicht Dr. Stefan Kemmer, Internist und Praxismitinhaber einer Gemeinschaftspraxis in Tauberbischofsheim, die dramatische Corona-Situation. Die Zahlen klettern stetig in die Höhe, die Coronakarte ist von dunkellila bis orange gefärbt. In „The Länd“ gibt es keinen einzigen roten Flecken mehr. Kein Wunder also, dass sich nach der politisch gewollten Schließung der Impfzentren vor den wenigen Angeboten der Mobilen Impfteams lange Schlangen bilden und die Hausärzte die Flut der Anfragen kaum mehr bewältigen können. „Die Telefone stehen nicht still“, sagt Kemmer.
Immer informiert sein
Fassungslos macht ihn, dass die momentan chaotische Situation eine mit Ansage ist. Im Sommer wurde die vierte Welle für den Herbst vorausgesagt, doch es wurde schlichtweg versäumt, klare Strukturen zu schaffen. Das Landratsamt habe nach Schließung der Impfzentren und auf Weisung des Sozialministeriums die Verantwortung an die Städte und Gemeinden abgegeben, die sich dann um den Einsatz von Mobilen Impfteams zu kümmern hatten. Einige Kommunen, wie Tauberbischofsheim, Bad Mergentheim, Wertheim und Grünsfeld hätten das getan, etliche ziehen nach. Die Patienten stürmen die Hausarztpraxen, deren Impftermine bis weit ins kommende Jahr ausgebucht sind. „Wir verweisen unsere Patienten jetzt an andere Impfstellen, auch ins benachbarte Bayern“, so Kemmer. Abhilfe sollen jetzt drei an die Krankenhäuser in Bad Mergentheim, Tauberbischofsheim und Wertheim angedockte Impfeinheiten bringen.
Hausärzte sind die ersten Ansprechpartner bei Infektionen. Sie klären auf, informieren über Quarantäne und erläutern, dass die Kontakte im Fall eines positiven Testergebnisses informiert werden sollten. Weil der Ansturm auf die Praxen so groß ist, wächst auch die Unzufriedenheit etlicher Patienten. Während viele Verständnis zeigen, lassen andere ihren Frust raus und schimpfen. Dabei arbeiten sowohl Ärzte als auch die medizinischen Fachangestellten am Anschlag.
Dr. Sebastian Gerstenkorn, Vorsitzender der Kreisärzteschaft Tauberbischofsheim, findet drastische Worte für das, was bei der aktuellen Pandemie-Situation schiefläuft: „Das ist ein Totalversagen der Politik.“ Nur dadurch komme es zu diesen explodierenden Coronazahlen, die nicht mehr eingedämmt werden könnten. Ihn ärgert, dass die Politik ständig etwas anderes erzähle, es keine klare Linie gebe und viel zu viel Bürokratie herrsche. Und er kann nicht verstehen, dass kein Politiker die Konsequenzen für das momentane Desaster tragen müsse.
Fehlender Respekt
Niemand frage, wie es den Ärzten und dem Personal gehe, bemängelt er den fehlenden Respekt vor seinem Berufsstand und dem medizinischen Fachpersonal. Richtig geärgert hat er sich über den Spruch des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministers Karl-Josef Laumann, der sagte, dass Ärzte samstags lieber impfen statt Golf spielen sollten. Dafür hat sich Laumann zwar entschuldigt, doch gesagt ist nun einmal gesagt.
Gerstenkorns Aussichten für den nahenden Winter sind mehr als trübe. „Ich denke, der point of no return ist überschritten“, sagt er und prophezeit, dass es in der nächsten Zeit „unschön“ werden dürfte. Dr. Sebastian Gerstenkorn: „Wir kommen in die Situation, in der es Triagierungen geben wird.“
Ähnlich sieht das auch Dr. Jochen Selbach, Vorsitzender der Kreisärzteschaft Bad Mergentheim. „Die derzeitige schwierige Corona-Lage in Deutschland kam mit Ansage der Epidemiologen“, meint er. Auch die Impfdurchbrüche seien vorhersehbar gewesen, weil der Impfschutz nicht bei 100 Prozent liege. Hauptproblem sei jedoch die zu niedrige Impfquote in der Bevölkerung. „Materiell sind wir gewappnet, noch ist die Situation beherrschbar aber es fehlt Fachpersonal auf den Intensivstationen, so dass die Gefahr der Triagierung der Patienten näher rückt und das Gesundheitssystem wieder in den Krisenmodus umschalten muss“, so Selbach. Um die vierte Welle zu brechen, erwartet er von der Politik klare bundeseinheitliche Vorgaben, die jetzt greifen müssen. Dazu gehöre ein verlässlich geprüfter 2G-Status, massenhaft boostern, die Erhöhung der Impfquote und das Einhalten der Hygieneregeln. Zudem spricht sich Selbach für eine Impfpflicht für alle Beschäftigten im medizinischen und im Pflegebereich aus.
„Viele Niedergelassene haben schon lange keine Erwartungen mehr, wurden doch zahlreiche Entscheidungen der bisherigen gut eineinhalb Jahre mehr als willkürlich und diffus kurvenreiche Maßgaben denn als evidenzbasierte Entscheidungen wahrgenommen. Die gesamte Coronapolitik lässt eine Auseinandersetzung mit der medizinischen Basis vermissen“, meint Dr. Carsten Köber, Vertreter der Allgemeinärzte von Bad Mergentheim und Igersheim in der Kreisärzteschaft Bad Mergentheim.
Am Anschlag arbeiten
Vieles würden die Ärzte bedauerlicherweise nur aus der Presse erfahren, so Köber. „Die Ankündigung des Gesundheitsministers zum ,Boostern für Alle’ führte nur zu einer weiteren Explosion der Impfanfragen in Hausarztpraxen – auf dem Rücken der schon am Anschlag arbeitenden Medizinischen Fachangestellten.“ Seinen Praxisalltag beschreibt Köber so: „Der Ansturm ist enorm, ein großer Teil der bei uns auflaufenden Telefonate dreht sich um das Thema Coronaimpfung und Testungen, dazu kommen unzählige Anfragen am Praxistresen. Gerade die bürokratische Alltagsarbeit, die meist unsere chronisch Kranken betrifft, bleibt derzeit liegen. Obschon wir in meiner Praxis insgesamt weit über 100 Coronaimpfungen wöchentlich durchführen, liegen die Impftermine teils schon im Januar 2022. Rund 50 Prozent der Impfungen werden terminiert, 50 Prozent impfen wir ,spontan’ aus der Sprechstunde, wenn Bedarf im direkten Kontakt gesehen wird.“
Parallel seien die Grippeimpfungen noch immer in vollem Gange. On-top komme dann noch das Alltagsgeschäft mit chronisch Kranken oder akut Hilfesuchenden. Besonders die Medizinischen Fachangestellten hätten schon lange ihre Belastungsgrenze überschritten. „Eine Steigerung der Impfzahlen ist aktuell kaum ohne eine gesundheitliche Selbstgefährdung machbar“, so Köber.
Dr. Christina Gläser, Allgmeinmedizinerin in Wertheim, empfindet die Lage als „katastrophal“. Es sei „schlimmer denn je“. Die unklare politische Situation habe zur Explosion des Bedarfs beigetragen. „Wir konnten zunächst so schnell gar nicht Impfstoff nachbestellen, um die Nachfrage zu befriedigen“, beklagt sie.
Krasse Fehlentscheidung
„Es war eine krasse Fehlentscheidung, die Impfzentren zu schließen. Klar gab es dort im Sommer Leerlauf. Und es ist es auch logisch, dass es politisch nicht gewollt ist, solche Zentren zu betreiben, wenn nichts zu tun ist“, erklärt sie. „Aber es war völlig klar, dass zum Winter hin die Zahlen wieder steigen und damit auch die Motivation, sich impfen zu lassen. Ganz zu schweigen von den notwendigen Boosterimpfungen.“
Weil sie in ihrer Praxis als Ärztin alleine arbeitet, könne sie nicht alle impfen, die derzeit anfragen. Praxen mit zwei oder noch mehr Kollegen hätten es da ein wenig einfacher: „Die können einen Arzt eigens fürs Impfen abstellen. Der andere macht dann die Notfallversorgung.“ Das geht bei uns nicht.
Jüngst habe sie zwei Praxen, die für eine Woche geschlossen hatten, vertreten. „Die kranken Leute kamen am Telefon nicht durch, weil es wegen der vielen Impfanfragen ständig besetzt war“, berichtet Christina Gläser.
Dann sind die Leute auch teilweise ziemlich aggressiv: Jüngst schrie ein Anrufer meine Mitarbeiterin durchs Telefon an, als sie ihn gebeten hatte, etwas leiser zu schimpfen.
Der Terminkalender für Impfungen sei nun bis Dezember gefüllt. Nachdem die Impfmobile wieder verstärkt im Einsatz sind und bald drei Impfstandorte im Kreis an den Start gehen, versuche ihr Team die Leute dort hinzulotsen. „Wir priorisieren und impfen beispielsweise nur die älteren oder die sehr kranken Patienten, die sich nicht in eine Schlange stellen können“, erklärt Christina Gläser. „Ich verstehe, dass die Leute sich nicht in die Schlange stellen wollen. Aber ich kann es nicht ändern.“
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