Munitionsdepot Wermutshausen - Bundeswehr sieht „keine Gefahr für die Bevölkerung“ durch gelagerte Artilleriegeschosse / 900 Meter von Zivilbebauung entfernt

Im Wald bei Niederstetten: Explosive Raketen rotten in Stahlbeton-Bunkern vor sich hin

Die Bundeswehr hat ein hochexplosives Problem. Und das stammt aus dem Kalten Krieg: Unter anderem im „Mun“-Depot Wermutshausen sollen gefährliche Raketen lagern. Dort weist allerdings nichts auf eine akute Sperrung des Geländes hin.

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Michael Weber-Schwarz
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Die Zufahrt zum Munitionslager Wermutshausen von der Straßenverbindung Niederstetten/Wildentierbach aus gesehen. © Michael Weber-Schwarz

Niederstetten. Ein „explosiver“ Beitrag des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ sorgte am Wochenende bundesweit für Schlagzeilen. In mehreren Munitionsdepots der Bundeswehr lagern zehntausende alte Raketen, die das hochexplosive Nitroglyzerin absondern.

Bekannt ist der Sprengstoff vor allem über die Verwendung als „Dynamit“. Der schwedische Chemiker Alfred Nobel erfand bereits 1867 den handhabungssicheren Sprengstoff, bei dem Kieselgur mit Nitroglyzerin getränkt wird. Vorher war der Stoff wegen seiner Stoß- und Erschütterungsempfindlichkeit in der Handhabung sehr gefährlich. Heute noch ist „Nitro“ – chemisch korrekt handelt es sich um Glycerintrinitrat – ein wichtiger Bestandteil vieler Treibladungspulver.

Artillerieraketen, die mit diesem Stoff verschossen werden, sind laut „Spiegel“ auch im Munitionsdepot bei Niederstetten eingelagert. Über 50 große Lagerbunker befinden sich im abgezäunten Waldstück „Hagenholz“ nördlich der Niederstettener Heeresfliegerkaserne. Rund zehn weitere dienen wohl der Lagerung von kleineren Kalibern. Die Entfernung der Bunker zur nächsten zivilen Bebauung beträgt nach Westen gerade einmal knapp 900 Meter. Zur Flugplatzkreuzung, bzw. Kasernenzufahrt sind es knapp 750 Meter Luftlinie – vom nächstgelegenen Großbunker aus gemessen.

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Kein Entsorgungskonzept

Ein Entsorgungskonzept für ausgemusterte Sprengstoffe „fehlt“, heißt es, bezogen auf die Alt-Raketen. Obwohl das Problem seit Jahren bekannt sei.

Wie auch die FN berichteten, tritt aus der alten Munition vom Typ LAR 110 Millimeter explosives Nitroglyzerin aus, es drohe sogar die Selbstentzündung, schreibt das Nachrichtenmagazin. Demnach sollen bundesweit mehr als 32 000 Raketen betroffen sein, die eigentlich seit langem unschädlich gemacht werden sollten.

Die Raketen lagern in sechs Munitionsdepots in Meppen, Wulfen, Nörvenich, Köppern, Eft- Hellendorf und eben Wermutshausen. Alle betroffenen Munitionslagerhäuser seien bis auf Weiteres und „bis zum Erlass weiterer Vorgaben“ gesperrt und „jeglicher Umgang mit dieser Munition untersagt“, heißt es in einem vertraulichen Sachstandsbericht des Verteidigungsministeriums vom September 2021, aus dem der „Spiegel“ zitiert.

Von einer Sperrung des Depots Wermutshausen kann allerdings keine Rede sein. Die nördlich von der L 1020 Richtung Wildentierbach abzweigende Zufahrtsstraße konnte zum Wochenende auch vom Zivilverkehr problemlos befahren werden; bis zur Pforte des Lagers. Dort gab es auf FN-Nachfrage hin keine Auskünfte – was zu erwarten war. Das Pfortenpersonal wirkte von der aktuellen Nachricht über die gelagerten gefährlichen Raketen aber einigermaßen überrascht. Die zitierte „Sperrung“ dürfte sich auf die einzelnen Lagerbunker beziehen.

Das Problem mit den ausdünstenden Raketen soll bereits seit dem Frühjahr 2019 bekannt sein. Bei einer weiteren Lagerung der Munition sei mit einer zunehmenden Verschlechterung des Materialzustands zu rechnen, schreiben die Experten des Ministeriums in ihrem internen Papier. Trotz dieser Warnungen habe das zuständige Koblenzer Beschaffungsamt (BAAINBw) bislang kein tragfähiges Entsorgungskonzept erbracht, beschwerte sich der Munitionsbeauftragte der Bundeswehr bereits im vergangenen August beim Ministerium.

Zu diesem Zeitpunkt (rund einen Monat vor der jüngsten Bundestagswahl) war noch Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer zuständig. Inzwischen sind Bundeswehrangelegenheiten die Aufgabe von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, die nach der Bundestagswahl das Amt im Kabinett Scholz übernommen hat.

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Alle Transporte untersagt

Ein zusätzliches Problem bei der Entsorgung der Explosivstoffe ist, dass der Transport der Raketen untersagt worden ist. Zwar wird nach Informationen des „Spiegel“ eine Vernichtung geprüft, auf einem BW-Sprengplatz könnten jährlich allerdings maximal 70 Einzelvernichtungen durchgeführt werden. Auch die bundeseigene Firma „Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten mbH“ (GEKA) in Munster/Niedersachsen könnte bis September 2022 lediglich 21 der Raketen vernichten. Bei den mutmaßlich insgesamt 32 641 zu entsorgenden Raketen sei dies, wie es aus dem Verteidigungsministerium heißt, „kein substanzieller Beitrag“.

Wenn der „Russe“ kommt

Nach Informationen der Agentur dpa wurden die Raketen zwischen den Jahren 1981 und 1989 produziert. Damals verfügte die Bundeswehr noch über Raketen für das sogenannte „Leichte Artillerieraketensystem“ (LARS), das Munition mit dem Kaliber 110 Millimeter verschießen konnte. Das Raketensystem gleicht der bekannten „Stalinorgel“ – es war auf einem leicht gepanzerten Laster montiert. Die erste Beschaffung von insgesamt 209 Fahrzeugen erfolgte von 1968 bis 1971. Das System wurde von drei Soldaten bedient und hatte eine Reichweite von rund 14 Kilometer. Je nach Munitionstyp konnte Sperrfeuer, Minensperren oder Nebelsichtschutz erreicht werden. Es sollte flexibel auf einen befürchteten Einmarsch von „russischen“ Truppen des Warschauer Pakts reagieren können.

Vor etwa 20 Jahren wurden die letzten LARS-Einheiten dann ausgemustert. Die Raketen konnten allerdings weiter mit dem „Mittleren Artillerieraketensystem“ (MARS) verschossen werden, für das ein entsprechend angepasster Abschussbehälter zur Verfügung steht.

Sitzt Niederstetten mit den Alt-Raketen auf einem Pulverfass? Die Konzentration des Explosivstoffs liege laut Untersuchungen unter zehn Prozent, teilte ein Bundeswehrsprecher dem SWR mit. Bis zu diesem Wert seien Nitroglyzerin-haltige Stoffe „unbedenklich“, so der Sprecher. Die Raketen im Mun-Depot bei Niederstetten seien zur Sicherheit bereits im Jahr 2019 für Übungen gesperrt und in speziellen Stahlbetonbehältern gelagert worden. Es bestehe keine Gefahr für die Bevölkerung.

Redaktion Im Einsatz für die Lokalausgabe Bad Mergentheim

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