Niederstetten. Wenn am kommenden Sonntag die Niederstettener Winzertanz-Paare zur großen Schau auf dem Festplatz auflaufen, dann ist das ein einziges, riesiges Spektakel. Und ein bisschen wie bei einer Theaterpremiere. Eine eindrucksvolle und emotionale Darbietung jedenfalls. Alles muss auf den Punkt sitzen. Wie es dazu kommt, das ist dem Publikum erst einmal egal – was zählt, ist der gute Gesamteindruck.
Doch viele Wochen vorher und hinter den Kulissen muss es ebenfalls laufen. Und kleine Pannen, sie passieren bekanntlich gerade auf den letzten Drücker. Niemand weiß das so gut wie Helga Wollinger. Fast ein halbes Jahrhundert hatte sie die Kostümkammer unter sich. Seit 1974 befand sich diese im damaligen Privathaus der Wollingers am „Sonnenhang“ westlich und überhalb der Bahnlinie. Jetzt hat mit Britta Scheidel ein Generationswechsel stattgefunden. Die Winzerkostüme, sie hängen mittlerweile (jenseits des Herbstfestes) in der großen Kleiderkammer in der Alten Schule – dort, wo auch die Ausstattung des Freilichttheaters untergebracht ist.
Immer für Notfälle parat
Helga Wollinger sorgte seit 1974 für den reibungslosen Ablauf des Winzertanzes. Im Rampenlicht, da stand ihr Ehemann Ernst als langjähriger Leiter. Doch ohne Helga, die „Mutter der Kompanie“, hätte es oft nicht funktioniert oder zumindest nur sehr schlecht. Mit dem Notfall-Nähkästchen unterm Arm, mit einigen Sicherheitsnadeln und Haarspangen ausgerüstet, stand sie stets am Sportplatz-Rand. Immer bereit, um in letzter Sekunde noch einzugreifen, wenn eine Kappe nicht hielt, oder eine der Miederverschnürungen sich unerwartet verabschiedete.
„Ich weiß nicht, wie viele Knöpfe ich in all den Jahren angenäht habe“, sagt Helga Wollinger. Der Winzertanz – er war ein Gutteil ihres Lebens der Jahresmittelpunkt. Nach dem Tanz ist vor dem Tanz – flicken, restaurieren, abzählen, pflegen, aufbewahren, alles instandhalten fürs nächste Jahr. „Da macht man was mit“, so Helga Wollinger. Das Abholen der Kostüme gehe in der Regel reibungslos vonstatten. Das Zurückbringen nicht. Zumindest war es ein Stressjob nach dem Fest, ehe jedes Kostüm wieder sauber auf der Kleiderstange hing. Heute zahlen jeder Winzer und jede Winzerin eine Kaution – und weil’s finanziell wehtun kann, sind auch die Kleider viel schneller wieder an Bord. „Früher, da musste man die Teilnehmer schon erziehen. Da war es wichtig, auch eine Respektsperson zu sein“ – denn wo Wein und Hormone bei den jungen Tänzern in Wallung geraten, da war es mit der Zuverlässigkeit oft nicht mehr ganz so weit her.
Nur ein einziges Mal auf dem Platz
Selbst am Winzertanz teilgenommen hat Helga Wolliger, geborene Groninger, nur ein einziges Mal– 1964. Warum nur einmal? Das Elternhaus war streng: Die Gastwirtschaft „Ochsen“ (das heutige Sparkassengebäude am Marktplatz) brauchte gerade ums Herbstfest jede helfende Hand aus dem Familienkreis. „Ich musste arbeiten“, auch als ihr späterer Mann längst Winzertänzer und Anführer der „Roten“ war.
Als Kind war Helga Wollinger allerdings auch schon als „kleine Winzerin“ dabei. Ein Foto aus dem Jahr 1948 ist erhalten, das sie zusammen mit dem Winzertanz-Begründer Richard Knenlein und dessen Sohn Günter zeigt. Die Knenleins waren (samt Druckerei) damals Nachbarn der Gastwirtsfamilie.
Woher kommen die Kostüme? Früher waren sie aufwändig bestickt. „Acht sind noch aus dem Jahr 1925 erhalten“, weiß Helga Wollinger. Die Blusen und Hemden der roten und grünen Trachten wurden damals in Eigenarbeit der Gruppe genäht. Der Stoff und die Mieder, Röcke und Westen wurden vom jüdischen Mitbürger Wilhelm Bernheim gestiftet, der ein Spitzenwaren-Geschäft im schweizerischen St. Gallen besaß. Bis 2003 wurden teils noch Trachten aus der Gründungszeit getragen. Bernheim war Ehrenbürger der Stadt – unter der NS-Diktatur wurde ihm die Würde allerdings aberkannt und später nicht wieder erneuert.
Als Kostüm-Verantwortliche hat Helga Wolliger nicht nur unzählige Niederstettener Jugendliche über Liebe, Herzschmerz, Eifersucht und Abstürze hinweg ins Erwachsenenleben hineinbegleitet – sie hat auch die modischen Wechsel hautnah mitbekommen. In den 1970er Jahren wurden die sonst deutlich überknielangen Rücke immer kürzer. Da wurde hochgesteckt und hochgenäht, so weit es ging – aber zum Glück nicht abgeschnitten. Die neueren Kostüme waren damals von der Stadt angeschafft worden – erst einmal eine überschaubare Stückzahl, denn Tradition, sie galt nicht mehr viel. Doch dann entwickelte sich der Winzertanz zum Jugendphänomen. Unter und mit Schneidermeisterin Isolde Menikheim fertigte Helga Wollinger zusätzliche Sets. 96 sind es heute – und an diese Hausnummer ist auch die maximale Teilnehmerzahl gebunden.
Kein Spaß für Autofahrer
Nach dem sonntäglichen Winzertanz war „Kaffeetrinken“ zuhause bei den Wollingers angesagt. Kaffee floss dabei allerdings kaum, sondern mehrheitlich Wein und Bier. Helga hatte zusammen mit einigen Helferinnen bereits Brötchen für die ausgehungerten Tänzer belegt.
Der Winzer-Zug hinaus an den Schöntaler Berg kostete auswärtige Festbesucher oft den letzten Nerv. Da wurde von der Gruppe die gesamte Straße blockiert und die Autos nur durch ein singendes Spalier hindurchgelassen. Oder: Ein Bus wurde gestoppt und die ausgelassene Schar stieg vorne ein und hinten wieder hinaus. Helga Wollinger kennt zahllose solcher Streiche, die man den Tänzerinnen und Tänzern aber in der Regel nachsieht. Machen kann man gegen die schiere Mengen-Macht der jungen Menschen ja ohnehin nichts.
Klare Linie gegen Chaos
Eine Kiste guten Weines „für die Helga“ wurde am Sonntag immer mitgebracht – auch der schlimmste Quertreiber verneigte sich damit mindestens innerlich vor ihr. Eine klare Linie haben und bei Bedarf auch Grenzen setzen, energisch werden – damit können wohl auch Winzertanz-Chaoten leben, so kann man die Haltung von Helga Wollinger zusammenfassen. Jetzt: Die Verantwortung abgeben und sie in jüngere Hände legen, das gehöre letztlich auch zum Leben. Helga Wollingers Sohn Arnd „pfeift“ bei Herbstfest 2022 zum letzten Mal – wie zuvor sein Vater – und leitet den Tanz. 1925 war Karl der erste Wollinger, der den Reigen anführte. Fast einhundert Jahre eine bemerkenswerte Familientradition – sie endet. Doch der grün-rote Tanz wird bleiben. Fragt man die heurigen jungen Winzer: für immer. So fühlt es sich zumindest für jeden Einzelnen an.
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